Die Rolle der Gewerkschaften

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Die Rolle der Gewerkschaften

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Angesichts des wirtschaftlichen Wohlstands in unserem Land ist es wenig verständlich, dass viele Arbeitnehmer sich mit Mindest- und Niedriglöhnen herumschlagen und trotz Vollzeitbeschäftigung noch „aufstocken“ müssen, um davon leben zu können. Maria Winkler ist Geschäftsführerin der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Bezirk Ostwürttemberg-Ulm. Sie vertritt u.a. einige tausend Beschäftigte der Stadt Ulm und der SWU sowie unterschiedlichste Arbeitnehmer in den privatwirtschaftlichen Dienstleistungsbranchen. Sie kennt das Problem der Geringverdiener.

Lassen Sie uns mit dem Öffentlichen Dienst (ÖD) beginnen: Würden Sie sagen, dass die Arbeit da in jedem Bereich auskömmlich bezahlt wird?
Die Lohntabelle in unserem Tarifvertrag Öffentlicher Dienst (TVÖD kommunal) beginnt in der untersten Gehaltsstufe, also z.B. in der Gebäudereinigung bei einem Bruttoverdienst von etwa 1.800 € und erhöht sich alle vier Jahre, bis auf ungefähr 2.020 €. Dies liegt etwas über dem Branchenmindestlohn „Reinigung“. Allerdings erhalten im ÖD auch Menschen im unteren Lohnsegment Vorzüge wie Weihnachtsgeld und eine betriebliche Altersvorsorge, so dass man auch im unteren Bereich von einem auskömmlichen Verdienst sprechen kann.

ver.di ist ja für einen sehr großen Bereich an Dienstleistungsbranchen zuständig. Wo sind Niedrig-löhnen am häufigsten?
Sehr niedrige Löhne haben wir – auch im ÖD – noch bei der Reinigung, den Serviceberufen in den Krankenhäusern und bei der Entsorgung, also denjenigen Menschen, die den Müll unserer Zivilisation einer geregelten Verwertung zuführen.

Also durchaus anstrengende und fordernde Berufe …
Ja richtig, das sind überwiegend körperlich anstrengende Arbeiten, die häufig auch mit einer gesundheitlichen Gefährdung verbunden sind. Dafür gibt es aber im TVÖD sogenannte Erschwerniszuschläge. Ein „klassischer“ Müllwerker kommt so auf einen Bruttoverdienst von rund 2.500 €. Entsorgungstätigkeiten, die von Privatbetrieben durchgeführt werden, sind natürlich schlechter bezahlt, teilweise um 200 bis 300 €. Von solchen Löhnen kann man nur mit starken persönlichen Einschränkungen leben. Hier findet man dann auch häufig „Aufstocker“, also Menschen, die trotz einer Vollzeitbeschäftigung beim Sozialamt aufstockende Leistungen beantragen müssen, um ihre Mieten bzw. den Familienunterhalt aufbringen zu können.

Was kann ver.di dazu beitragen, mehr Lohngerechtigkeit herzustellen?
Niedriglöhne sind ein unhaltbarer Zustand, da gibt es keinen Zweifel. In der vergangenen Tarifrunde haben wir mit einer neuen Entgelttabelle versucht, mehr Lohngerechtigkeit zu erreichen. Die unteren Gehaltsstufen sind dabei überproportional gestiegen, so dass die Schere zwischen den niedrigsten und den höheren Gehältern nicht mehr ganz so weit auseinander geht. Ich denke, da ist uns beim ÖD  in der Tat ein großer Wurf gelungen.

Wie groß ist Ihr Einfluss auf die Privatwirtschaft?
Unsere Tarifverhandlungen mit privaten Arbeitgebern funktionieren, wo diese in Branchenverbänden organisiert sind. Da gibt es dann auch die Möglichkeit, Tarifverträge abzuschließen. Sehr schwer tun wir uns in Dienstleistungsbranchen, hinter denen kein Arbeitgeberverband steht. Nur wenn sich Arbeitnehmer dort gewerkschaftlich organisieren, sind wir in der Lage, über Haustarifverhandlungen Verbesserungen zu erzielen. Wer da nicht organisiert ist, muss mit dem leben, was ihm der Arbeitgeber freiwillig gibt. Diese Menschen können nicht von Tarifverträgen profitieren.

Bei den letzten Tarifverhandlungen war Ihnen ja ein "Sockelbetrag" für die unteren Einkommens-gruppen sehr wichtig. Warum wurde dieses Ziel dann so schnell aufgegeben?
Wir hatten insgesamt drei Verhandlungsrunden. Bei den ersten beiden hatten wir überhaupt kein Angebot der Arbeitgeber bekommen. Deshalb gab es dann auch die Warnstreiks in der Osterzeit. Der Mindestbetrag war für ver.di tatsächlich sehr wichtig, für die Arbeitgeber aber erst mal ein rotes Tuch. Die Entgelttabelle für den ÖD ist in den letzten zehn Jahren sehr durcheinander geraten. Daher haben wir versucht, mit einer komplett neuen Tabelle die Unterschiede zwischen den Gehaltsgruppen etwas zu glätten und dafür die Höherstufung innerhalb der Gruppen zu verbessern, so dass sich ein Aufstieg auch rechnet. Dies ist uns in der letzten Tarifrunde weitgehend gelungen. Da gab es dann allerdings keinen Spielraum mehr für Mindestbeträge. Immerhin haben wir es geschafft, dass nun die Einstiegsgehälter im ÖD auch der Konkurrenz mit der Privatwirtschaft standhalten können. Zum Teil steigen sie über die Laufzeit des Tarifvertrags um bis zu 10 Prozent! So wird der ÖD auch für Berufseinsteiger attraktiv bleiben.

Werfen wir noch einen Blick in die Zukunft: Unsere Arbeitsverhältnisse werden immer individueller und flexibler gestaltet. Kann da eine große Gewerkschaft wie ver.di noch die Interessen aller Arbeitnehmer angemessen vertreten?
Wo wir näheren Einblick in die Branchen haben, sehen wir gerade keine Individualisierung, sondern eher eine größere Bedeutung der Teamarbeit. Kein Mensch schafft heute irgendetwas alleine, wir alle sind ein Rädchen im großen Getriebe. Große Aufgaben erfordern Zusammenarbeit. Erfolgreich sind diejenigen Betriebe, die es schaffen, ihre Mitarbeiter als Team an gemeinsamen Ergebnissen teilhaben zu lassen. Ich glaube nicht, dass unsere Dienstleistungen von einer großen Individualisie-rung geprägt sind. Insofern bin ich überzeugt, dass die Menschen auch weiterhin starke Gewerkschaften brauchen, um nicht unter die Räder zu kommen.

Sie würden also auch zukünftig jedem raten, einer Gewerkschaft beizutreten?
Ja natürlich! Das zeigen die Erfahrungen der letzten hundert Jahre bis heute: Wo man sich organisiert und gemeinsam für bessere Arbeitsbedingungen einsteht, kann auch etwas erreicht werden. Wir können nicht in die Zukunft blicken, aber die aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt geben eher Anlass zu glauben, dass Arbeitnehmer auch in Zukunft starke Gewerkschaften brauchen werden.

Interview: Thomas Dombeck