Straßen umbauen, damit sie neuen Mobilitäts-Gewohnheiten gerecht werden

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Straßen umbauen, damit sie neuen Mobilitäts-Gewohnheiten gerecht werden

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Ein Interview zur Verkehrsplanung der Zukunft mit Prof. Michael Ortgiese, Leiter der Abteilung „Design und Bewertung von Mobilitätslösungen“ am DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik, Berlin

Herr Ortgiese, Sie forschen im Bereich der Verkehrstechnik und entwerfen leistungsfähige Mobilitätslösungen. Betrachten wir mal eine kleinere (aber wachsende) Großstadt mit ihrem Umland sowie den innerstädtischen Verkehr. Wohin geht die Entwicklung ihrer Ansicht nach bis 2030, auch im Hinblick auf die Elektromobilität? 
Die Hoffnung ist, dass wir nicht nur die Antriebstechnologie tauschen werden, sondern auch neue Mobilitätsangebote entwickeln. Auch hierin kann die Lösung des Reichweitenproblems liegen, da nur eine kleine Anzahl von Wegen wirklich große Reichweiten erfordern. Für den Fernverkehr sollte daher die Bahn an Bedeutung gewinnen. Aber auch für die Stadt selber und deren Verknüpfung mit der umliegenden Region werden sicherlich neue Angebote entstehen. Es wird darauf ankommen, Angebote intelligent zu verknüpfen und sie an die Rahmenbedingungen der jeweiligen Stadt und ihrer Größe anzupassen. Die Entwicklung wird sehr davon abhängen, ob wir nur den Tank durch die Batterie ersetzen wollen, oder die Elektromobilität als einen integralen Bestandteil innovativer Mobilitätskonzepte. Diese werden auch zunehmend die Energieversorgung mit betrachten müssen. Wir sind jetzt sicher an Beginn eines längeren Transformationsweges. 

Um unsere gesteckten Klimaziele zu erreichen, wird es auch notwendig sein, das Verkehrsaufkommen generell zu reduzieren. Mit welchen Verkehrsmengen rechnen Sie beim Individualverkehr im Jahr 2030 im Vergleich zu heute?
Hier sollten wir genauer betrachten, was wir unter Verkehrsmenge verstehen. Insgesamt wird sich unsere Mobilität auf die einzelne Person bezogen sicherlich nicht ändern. Die Statistik zeigt, dass wir im Durchschnitt 3,5 Wege pro Tag zurücklegen. Interessant ist aber die Frage, ob diese Wege länger oder kürzer werden. Städtebauliche Konzepte, die Wohnen, Arbeiten oder auch Einkaufen zusammenbringen können die Nahmobilität fördern. Es zeigt sich aber auch hier, dass die zurückgelegten Entfernungen eher zunehmen als abnehmen. 

Insgesamt kann also davon ausgegangen werden, dass die personenbezogene Verkehrsleistung, also der Wert, der sich aus der Multiplikation der Wegeanzahl und der Entfernung ergibt, eher gleichbleibt. Unser Ziel muss es aber sein, dass wir insbesondere bei weiteren Fahrten nicht mehr alleine in einem Fahrzeug sitzen. D.h. die fahrzeugbezogene Verkehrsleistung, also die von allen Fahrzeugen zurückgelegte Distanz, sollte eher abnehmen. Ob dieses so kommt, wird einerseits von den neuen Angeboten abhängen, aber auch von Instrumenten wie einer stärkeren finanziellen Belastung von CO2 Emissionen. Übrigens: welchen Einfluss die Erfahrungen der letzten 15 Corona-Monate auf unser Mobilitätsverhalten haben werden, muss sich erst noch zeigen.   

Ist es vor diesem Hintergrund noch sinnvoll, Straßen in und innerhalb der Städte weiter auszubauen, oder zieht man damit weiteren Verkehr an?
Innerhalb der Städte werden wir Straßen sicherlich nur noch in sehr begründeten Ausnahmefällen ausbauen. Es wird eher darum gehen, wie wir Straßen umbauen, damit sie neuen Mobilitätsgewohnheiten beziehungsweise den Anforderungen neuer Mobilitätsangeboten gerecht werden.

Die heute gebaute Infrastruktur muss mehrere Jahrzehnte tragen. Was sollte bei der weiteren Planung urbaner Verkehrswege beachtet werden? Brauchen wir einen Paradigmenwechsel?
Die Gestaltung der Netze und die verfügbare Straßenbreite, d.h. der Raum zwischen den privaten Grundstücksgrenzen sind sehr robust. Theoretisch haben wir die Möglichkeit, neue Gestaltungselemente einzufügen. Die Gestaltung des Straßenraums hängt natürlich direkt von den Anforderungen der Nutzung ab. Wenn es uns gelingt, die Anzahl der Fahrzeuge im Netz zu reduzieren, dann können die Flächen, die wir heute für das Fahren und Parken nutzen, die Aufenthaltsqualität unserer Straßen erhöhen, aber auch deren Attraktivität für den Fuß- und Radverkehr. Dadurch gelingt es uns vielleicht doch, dass die Verkehrsteilnehmer*innen Ziele in der direkten Umgebung ihrer Wohnung ansteuern. Viel stärker müssen wir aber über integrierte Maßnahmenbündel nachdenken. Die Gestaltung der Mobilität der Zukunft erfordert die Kombination von neuen Fahrzeugkonzepten, angepasster Infrastruktur, die Nutzung digitaler Lösungen und natürlich auch, dass wir unser Verhalten ändern.

Engpässe des Verkehrssystems sind vor allem Kreuzungen bzw. Knotenpunkte. Wie können diese möglichst leistungsfähig gestaltet werden? Haben Kreisverkehre eine größere Kapazität als Ampelkreuzungen?
Das ist für den städtischen Verkehr richtig. In den letzten 20 Jahren wurde eine Vielzahl von Kreisverkehren gebaut. Sie haben einige Vorteile aus Sicht der Verkehrssicherheit und verfügen über eine gute Leistungsfähigkeit, insbesondere wenn die Zufahrten des Kreisverkehrs in etwa gleich belastet sind. Hohe Verkehrsnachfragen erfordern jedoch Zufahrten und Kreisfahrbahnen mit mehreren Fahrstreifen. Das macht den Kreisverkehr komplexer und schwer zu befahren. Sehr hochbelastete Knotenpunkte sollten daher eher als Kreuzung mit Ampel ausgestaltet werden. Dies führt auch dazu, dass die ersten Kreisverkehre wieder zu Kreuzungen umgebaut werden.

Wir haben heute vernetzte Fahrzeuge, eine intelligente Verkehrssteuerung und Konzepte wie 'shared spaces'. Sind da Verkehrsampeln nicht ein Relikt des 20. Jahrhunderts?
Neue Technologien werden uns auch neue Möglichkeiten geben, den Verkehr zu managen und zu steuern. Auch die Verkehrsampel wird sicherlich eine Evolution erfahren und auf die Anforderungen von digitalisierten Verkehrssystemen zugeschnitten werden. 
Aber was macht eine Ampel eigentlich? Sie verteilt Lücken möglichst gerecht zwischen sich kreuzenden Strömen, damit Fußgänger*innen, Fahrradfahrer*innen und Fahrzeuge eine Fläche möglichst sicher und mit möglichst geringen Zeitverlusten gemeinsam nutzen können. Diese Anforderung werden wir auch in Zukunft bei automatisierten Verkehrssystemen haben, wenn auch neue Technologien ein höheres Maß an Flexibilität ermöglichen. Ob die Kommunikation dann über rote, gelbe oder grüne Lichtzeichen erfolgt, oder ob wir andere Medien einsetzen, wird sich zeigen. 

Welche zeitgemäßen Methoden bzw. Technologien sehen Sie, um den Verkehr intelligenter und flüssiger zu steuern?
Die digitale Vernetzung wird es ermöglichen, schneller auf Nachfrageschwankungen und die Mobilitätsanforderungen der Verkehrsteilnehmer*innen reagieren zu können. Die Vernetzung wird einhergehen mit einer schrittweisen Automatisierung von Fahrzeugen. Hier werden wir neue Fahrzeugkonzepte sehen, die neue Mobilitätsdienstleistungen für den gemeinsamen Transport von Personen ermöglichen. An Tagen mit besonderen individuellen Anforderungen an die Mobilität werden wir auf Sharing-Angebote zurückgreifen.

Für attraktive Angebote werden wir auch unsere Infrastruktur umgestalten. Natürlich sollten wir uns bemühen, mehr mit dem Rad zu fahren und zu Fuß zu gehen. Das klappt gut, wenn wir Ziele mit kurzen Wegen wählen. Fahren weniger Fahrzeuge auf unseren Straßen, wird der verbleibende Verkehr auch flüssiger laufen. Insbesondere in unseren europäischen Städten müssen die Fahrzeuge lernen, mit immer komplexer werdenden Situationen umzugehen. Automatisierte Fahrzeuge sollten aber, zusammen mit der Elektromobilität, in übergreifende Mobilitätsangebote integriert werden. Nicht nur das Fahrzeug wird automatisiert, sondern das komplette Mobilitätssystem.

Halten Sie ein generelles Tempolimit von 30 km/h innerorts für sinnvoll, auch in Bezug auf Emissionen?
Mit dem Einzug der Elektromobilität werden die lokalen Emissionen nicht mehr so große Probleme bereiten. Mit zunehmender Automatisierung wird es uns auch nicht mehr so schwerfallen, Tempo 30 zu fahren. Die Frage nach der Geschwindigkeit auf einer Strecke ist zumindest in den Zentren der Städte gar nicht so relevant. Wir sollten in Zukunft betrachten, wie lange wir von A nach B unterwegs sind. In den meisten Fällen wird man in den zentralen Bereichen mit Tempo 30 dann gut leben können, zumal das Sicherheitsniveau deutlich höher liegt. 

Herzlichen Dank für das Interview!

Thomas Dombeck