Das Ehinger Tor: Utopie oder Zukunft?

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Das Ehinger Tor: Utopie oder Zukunft?

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Egal, wie lange man in Ulm wohnt, man muss jedesmal scharf nachdenken, wenn man sich am Ehinger Tor im Spurenwirrwarr einordnen muss: Welche Spur, wenn ich nach Söflingen will? Welche führt nach Ehingen? Nach Neu-Ulm? Zum Eselsberg? In die Innenstadt? Dann kreuzt noch die Straßenbahn den Weg und Busse sind da auch noch. Perspektive eines Autofahrers am Verkehrsknotenpunkt Ehinger Tor.

Wenn man nebenbei noch einen Blick riskiert auf das steinerne Monument, den Torbogen, der diesem Knoten vor fast 200 Jahren seinen Namen gegeben hat - naja, dann hat man eh verloren. Ist man dagegen als Fußgänger oder Radler unterwegs in die Weststadt, dann muss man diese breiten Straßen mit den vielen Ampeln überwinden. Man hangelt sich von (Verkehrs-)Insel zu (Verkehrs-)Insel, dazwischen der nicht abreißende Strom an Verkehr. Die B10 verläuft zwar teils unter dem Ehinger Tor, in der Erde, aber oben drüber liegt nochmal ein großer Teppich Straßen. Sie zerschneiden Ulm. Trennen den Westen von der Innenstadt. Trennen Menschen. Dieser einen, gemeinsamen Stadt. 

Wir schreiben das Jahr 2030. Die Landesgartenschau hat Ulm einen kräftigen Schubs gegeben, sich der Zukunft zugewandt, darüber klar zu werden, wie wichtig grüne Lungen für das Stadtklima sind. Damit die Stadt nicht überhitzt. Damit die Menschen in der nachverdichteten Stadt eine Oase haben, in der sie auftanken können; in der nicht die nächste Hausmauer schon vor der Nase herumsteht, oder der Nachbar; oder der Lärm aus der Umgebung das Ohr penetriert. In der auch Insekten und andere Tiere einen Lebensraum haben. Weil Ökosysteme nicht nur draußen auf dem Land ihren Platz haben müssen. Und dort ohnehin verdrängt werden: Flächenfraß, Straßen, Gewerbe, Pestizide, Monokulturen…

Also: Im Jahr 2030 führen die Straßen in mindestens zwei Ebenen unter dem Ehinger Tor hindurch. Mit Abbiegespuren sowie Auf- und Abfahrtsrampen. Das wird zwar teuer gewesen sein, aber die Stadt wird weitsichtig für sich und ihre Bürger gedacht haben. Straßen sind nämlich ein Auslaufmodell aus dem 20. Jahrhundert. Lediglich die Straßenbahn auf den Kuhberg und eine neue Straßenbahnlinie nach Neu-Ulm und weiter bis Wiblingen werden noch - ganz leise - über den Platz am Ehinger Tor fahren. Durch einen großen grünen Garten. Die Schienen werden kaum sichtbar sein, denn auch das Gleisbett wird aus Gras sein. 

Ein großer Garten...
Der Platz also: ein großer Garten. Mit wilden Wiesen, Grasflächen zum herumliegen und dösen. Zum Lesen. Zum Lernen. Zum Ballspielen. Dort gibt es einen großen Brunnen, der Kinder zum Plantschen einlädt und Erwachsene zum Kneippen an heißen Tagen. Mit einem kleinen Bach. Vielleicht eine Miniatur-Donau mit Mini-Ulmer-Schachteln zum Spielen.

Es gibt nicht nur weiterhin die prächtigen rosa Kirschbäume, die bereits im Jahr 2021 schon an dieser Stelle für einen japanischen Hanami gut gewesen sein werden. Sondern nun auch: Obstbäume, Himbeer- und Stachelbeerhecken und viele, viele Kräuterhügel. Jeder darf sich dort bedienen und naschen. Ein Garten Eden. Mitten in Ulm. Die Geschwister-Scholl-Schule, die mit ihrem altehrwürdigen Gebäude direkt an den Platz angrenzt, hat einen Schulgarten, in dem die Schülerinnen und Schüler lernen, wie man sich selbst versorgt. Denn Unabhängigkeit von globalen Strukturen ist nun das Credo der Stunde. Regionale Kreisläufe. Auch Mitglieder der Martin-Luther-Gemeinde, der Kirche neben der Schule, machen mit. Und feiern im Grün vor der Kirche ihre Feste.

Inmitten des Gartens gibt es zwei Gewächshäuser. Ein Gewächshaus zum Arbeiten: In dem sich viele verschiedene Menschen einen Arbeitsplatz mieten, mit Blick ins Grüne. In dem kreative Gedanken entstehen, Synergien. In dem anderen Gewächshaus - oder vielleicht auch im gleichen - wachsen Tomaten, Salate, Gurken, Paprika und vieles mehr. Die Stadt hat Menschen hier angestellt, die hier gärtnern und die Ernte an Ort und Stelle an die Ulmerinnen und Ulmer verkaufen. Es ist eine Gärtnerei, die Menschen mit Behinderungen, mit psychischen Problemen oder Menschen, die auf dem Ersten Arbeitsmarkt keinen Job finden, beschäftigt.

Rund um diesen grünen Platz erstrahlen nun endlich die wunderschönen Gründerzeit-Stadthäuser, nach Jahrzehnten des ignoranten Dornröschenschlafs, zu neuem Glanz. Mit Blick auf diesen schönen Garten - jeder will dort wohnen. Die Schaufenster, die im Jahr 2021 nebeneinander leer gestanden haben, sind längst mit Leben gefüllt. Und die besten Läden am Platze: Cafés und ein Repair-Café sowie ein Selbermach-Laden sind dort eingezogen. 

Auch Musik spielt plötzlich im Leben der Ulmerinnen und Ulmer an dieser Stelle eine Rolle. Die Musikschule oder ein Musik-Labor haben sich ebenfalls eines der Gebäude in Premiumlage gesichert. Und geben regelmäßig Konzerte im Garten. Dort, in der Mitte, wo auch ein Tanzboden steht. Wie früher, als um die Linde getanzt wurde. Natürlich wird auch im Ulmer Garten getanzt. Bei schönem Wetter. Lindy Hop, Salsa, Walzer. Zugucken, mitmachen, abgucken von den Alten, abgucken von den Jungen.

Das große Ehinger Tor ist nun abends immer angeleuchtet. Und zwar nicht von den Scheinwerfern der Autos. Es erinnert daran, wie die Stadt vor fast 200 Jahren mal war, wie autoumtost im Jahr 2021 und wie entspannt 2030. Weil sie erwachsen geworden ist, ihre Trotzphase überwunden hat. Weil sie reif geworden ist für die wirklichen Herausforderungen und Chancen von heute, morgen und übermorgen. Ulm, die Robuste am Fluss. Die im Fluss ist. 

Isabella Hafner