Schulterschluss im Stadtteil

Lesezeit
3 Minuten
Gelesen

Schulterschluss im Stadtteil

0 Kommentare

Das Ulmer Dialogmodell feiert 25-jähriges Bestehen. Ins Leben gerufen wurde diese neue Form der Bürgerbeteiligung von Dieter Lehmann. Wir sprachen mit ihm über die Anfänge, die Bedeutung der Stadtteilarbeit und was das alles mit dem großen Schwörbrief aus dem Jahr 1397 zu tun hat.

Herr Lehmann, die Stadt Ulm feiert 25 Jahre Dialogmodell. Was verbirgt sich dahinter?
Genau genommen geht es dabei um einen Trialog zwischen den Akteuren Bürgerschaft, Verwaltung und Politik. Beim Ulmer Dialogmodell handelt es sich im Grunde um einen sozialplanerischen Ansatz. Es ging darum, die Bürgerinnen und Bürger in der Partizipation zu stärken, denn sie wissen in den einzelnen Stadtteilen am besten, wo der Schuh drückt.

Woraus entstand die Idee?  
Es ging zu der damaligen Zeit um eine Neubelebung und Aktivierung der Zivilgesellschaft. Ich war damals nach der bundesweiten Einführung des neuen Kinder- und Jugendhilferechts der erste hauptamtliche Jugendhilfe-Planer in Baden-Württemberg und entwickelte ein Modell, das tiefer als bislang in die Stadtteile hineinwirken sollte. Dabei installierten wir auch die  sogenannten Regionalen Planungsgruppen (RPGs), die es deshalb bereits seit Beginn der 90er-Jahre gab. Im Unterschied zu heute überwog damals das Engagement von Hauptamtlichen und Vertretern verschiedener Institutionen, jedoch nicht das der Bürgerschaft. Das wollten wir mit der Neustrukturierung der Jugendhilfeplanung ändern, auf der letztendlich auch das Dialogmodell sowie die Aufteilung in die fünf Ulmer Sozialräume aufbaute. 

Was änderte sich 1997?
Das war ein ganz wichtiges Jahr, in dem es viele neue Entwicklungen in Richtung der Bürgergesellschaft gab. Zum Beispiel wurde in dieser Zeit auch die Ulmer Bürgerstiftung gegründet. Die Idee war, dass Bürgerschaftliches Engagement die Kommunalpolitik im positiven Sinne herausfordern sollte, möglicherweise intensiver als bisher, jedoch niemals ersetzen. Die Rollen der einzelnen Akteure und deren Verhältnis zueinander sollte dialogisch und kooperativ sein - zum Wohle der Stadtgesellschaft.

Doch eigentlich gab es ja auch einen historischen Hintergrund?
Genau, den 1997 wurde in Ulm das Jubiläum „600 Jahre großer Schwörbrief“ gefeiert. Eine Sternstunde für die Demokratie in der Geschichte. Das historische Dokument legte zum ersten Mal fest, dass nicht nur Adlige und Patrizier, sondern eben auch Handwerkerzünfte Stadtpolitik betreiben dürfen. Damals wurde die Verwaltung in ein anderes Licht gerückt. Sie musste Macht an die Bürgerschaft abgeben. Entschieden wurde zwar weiterhin im Rat, doch wurden nun auch Vertreterinnen und Vertreter der Bürgerschaft gehört. 

Wie wurde das Dialogmodell konkret umgesetzt?
Wichtig war, dass die Bürgerinnen und Bürger das Modell nicht nutzten, um ausschließlich Kritik an den Entscheidungen im Rathaus zu üben. Es konnte nur funktionieren, wenn sie selbst in gegebenen Foren wie den RPGs oder bei Bürgerversammlungen aktiv wurden. Klar ist, dass dieses Bürgerengagement natürlich auch von der Verwaltung und der Kommunalpolitik im Sinne des Gemeinwesens gewünscht und zugelassen wird. Zu den Verbindungsgliedern wurden die hauptamtlich beschäftigten Stadtteilkoordinatoren und- Koordinatorinnen, die wiederum mit ehrenamtlich agierenden RPG-Sprechern kooperierten. Wer hier gut zusammenarbeitete, konnte in seinem Stadtteil im Schulterschluss viele Dinge bewegen.  

Weshalb ist ein direkter Austausch mit der Bürgerschaft so wichtig für eine Verwaltung?  
Ganz einfach, weil die Beschäftigten in einer Verwaltung nicht immer alles wissen können, was in den einzelnen Stadtteilen konkret passiert oder verändert werden sollte. Wo zum Beispiel genau Park-, Spielplätze und Verkehrsberuhigungen dringend benötigt werden, wissen die entsprechenden Anwohnerinnen und Anwohner. Sie können am besten beurteilen, was vor ihrer Haustüre geschieht. Gleichzeitig brauchen diese den Dialog und die Fachkompetenz mit der Verwaltung sowie den Rückhalt für ihre Vorschläge in der Kommunalpolitik. 

Was sind die größten Erfolge des Modells?
Die Stadt Ulm hat viel Geld in die Hand genommen, um das Bürgerengagement über das Dialogmodell zu fordern und möglich zu machen. So gibt es heute in den fünf Sozialräumen Böfingen, Mitte/Ost, Eselsberg, West/Söflingen und Wiblingen eigene Bürgerzentren als Orte der Begegnung. Auch sie alle tragen dazu bei, dass die Solidarität, der Zusammenhalt und der soziale Frieden in den Stadtteilen gestärkt wird. Wenn dann die Bürgerschaft und ihre zivilgesellschaftlich gebildeten Vereine öffentliche Aufgaben wie zum Beispiel das Betreiben von Bürgerzentren selber übernehmen, etwa wie die AG West das Weststadthaus, dann sind das die höchsten Weihen der Bürgerkommune - und das mit Unterstützung der Verwaltung.

Die Fragen stellte Stefan Loeffler


Gestalter und nicht Verwalter
Dieter Lehmann hat Wirtschaft und Sozialwissenschaften sowie einige Semester Architektur studiert. Er war bis zum Ausscheiden des Sozialbürgermeisters Dr. Götz Hartung dessen rechte Hand. Nach zwölf Jahren als Amtsleiter bei der Stadtverwaltung in Schwäbisch Gmünd kehrte der gebürtige Ulmer und ehemalige Leiter der Ulmer Stabsstelle Strategische Planung/Bürgerschaftliches Engagement im vergangenen Jahr an die Donau zurück. Wenig später wurde der heute 66-Jährige, der sich immer mehr als ein Gestalter als ein Verwalter sah, zum ehrenamtlichen Vorsitzenden des Ulm/Neu-Ulmer GenerationenTreffs e.V. gewählt.