Wo die Bewohner einer reichen Stadt leben
Eine Nacht unter Null Grad ist wieder vorbei. Ein eisiger Wind pfeift, es regnet. An der Donau unter der Ulmer Eisenbahnbrücke ist es ziemlich farbenfroh. Farbenfroh deshalb, weil dort bei näherer Betrachtung ein Camp aus vier Zelten, vielen Taschen und anderem Krimskrams ist. Und bei noch näherer Betrachtung kann man auch, ganz vermummt, den ein oder die andere erkennen. Andrea zum Beispiel. Sie ist 69 und sitzt Tag und Nacht auf dem Sofa neben ihrem Zelt. Das hat ihr jemand mal hingestellt. Gottseidank. Denn seit ein paar Monaten hat sie Rheuma und kann nicht mehr liegen. Sie sitzt dort deswegen auch nachts, hinter zwei Schirmen, die den Wind und Regen abwehren sollen.
Und damit sie auch gegen anderes besser geschützt ist. Sie erzählt: „Kürzlich haben junge Leute nachts Eiswürfel über mir ausgeschüttet.“ Sie erzählt das, ohne besonders betroffen zu wirken. Solche Sachen passierten leider immer wieder. Sie sei froh, dass die Stadt dulde, dass sie und ihre Nachbarn unter der Brücke kampieren dürfen. Gleichzeitig bekommt sie regelmäßig Besuch von Ratten, wenn sie nachts auf dem Sofa sitzt. „Aber die tun mir ja nichts“, lacht sie. Die Drogen, die ihr angeboten werden und hier in der Gegend vertickt werden, lehnt sie dankend ab. Auf die Gesellschaft von manch zwielichten Männern könnte sie verzichten. Da ist etwa der junge Mann, der sich zu ihr anpirscht, sagt, er möchte bei ihr bleiben und ihr dann die Hand hinten unter die Jacke auf die Haut legt. Mit so jemandem muss die normalerweise sehr freundliche Frau dann Klartext reden. Und schüttelt gleichzeitig den Kopf. „Denen ist ganz egal, wie alt ich bin.“ Einer hat sie gefragt, ob sie sich etwas dazu verdienen wolle. Andere haben mit Scherben ihr Zelt zerstört. Ein anderer überfiel sie, als sie im Zelt lag. Da ist sie dann raus und hingefallen. Auf den Hinterkopf. Drei Wochen habe sie im Krankenhaus gelegen.
Seit eineinhalb Jahren lebt Andrea auf der Straße. Seit ihr Mann plötzlich verstorben ist und sie alleine die Wohnung nicht mit ihrer Rente bezahlen konnte. Ihr einziges Kind von ihrem geschiedenen Mann sei verstorben. Davor hatte sie noch ein paar weitere Schicksalsschläge.
Die erste Zeit ohne Wohnung schlief sie auf einer Bank am Zentralen Omnibusbahnhof, neben dem Ulmer Bahnhof. Dort sei ihr eines nachts ihr Hab und Gut gestohlen worden. Ins Übernachtungsheim vom Roten Kreuz wollte sie nicht. „Da darf man nur schlafen und muss tagsüber draußen sein. Da könnte ich dann nicht, wie hier, so viele Sachen haben und müsste immer irgendwo herumlaufen.“ Ab und zu sich aufwärmen, in Geschäften zum Beispiel, eine Nacht drinnen mal zwischendurch - große Sehnsucht? Andrea weiß, wenn sie das macht, dann fällt es ihr danach umso schwerer, sich wieder an die Kälte zu gewöhnen. Deshalb lässt sie es meistens bleiben.
Viele, die hier an der Donau entlang kommen, kennen sie schon. „Manche Kinder rufen morgens auf dem Weg zur Schule: Hallo Andrea, wie geht’s dir?“ Andere Menschen schauen weg. „Manche Kinder wollen zu mir herkommen, dann sagen die Eltern, das sollen sie nicht“, erzählt sie. „Ich finde, das soll jeder machen, wie er meint. Aber man sollte dann den Kindern auch erklären, warum jemand obdachlos ist. Du bist schneller draußen, als du denkst. Jeder hat hier seine Geschichte.“ In einem anderen Zelt hat ein Tibeter sich niedergelassen. Er schreibt Gedichte und sei aus dem Tibet geflüchtet. Ihr direkter Zeltnachbar ist noch sehr jung.
Andrea liest gerne und schreibt ihre Beobachtungen von ihrem Posten aus und ihre Gedanken jeden Tag in ihr Notizbuch. Sie lacht. „Vielleicht will ja jemand mal ein Buch draus machen.“ Mit Gedanken von der Straße. Alkohol verschmäht sie.
Andrea klagt nie. Sie freut sich über jeden, der stehen bleibt, kurz mit ihr ratscht. Sie fragt, wie es geht. Viele Menschen finden sie so sympathisch, dass sie ihr etwas vorbei bringen. Wie die Frau, die eine Wärmflasche dabei hat, die sie unter ihre Decke aufs Knie legt und ihr Rheuma etwas lindert. Oder die andere Frau, die eine Kanne Tee hinstellt, die Frau mit dem schön verpackten Weihnachtsgeschenk, die Jugendlichen aus Afghanistan, die ein TikTok-Video von ihr gemacht haben, wodurch sie noch bekannter geworden ist. Andrea sagt: „Es gibt schon viele nette Leute. Viele fragen einfach, was ich brauche.“ Und dann kommt gerade ein Mann vorbei, der ihr spontan Geld in die Hand drückt. „Mei, des is liab!“, sagt sie in ihrem oberbayerischen Akzent. Wenn sie etwas von Passanten bekommt, teilt sie es mit ihren Nachbarn. Sie ist so etwas wie die Mutter hier unter der Brücke. Und wünscht sich trotzdem, endlich wieder ein Dach über dem Kopf zu haben.
Isabella Hafner
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