Radverkehr in den Niederlanden – von unseren Nachbarn lernen?

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Radverkehr in den Niederlanden – von unseren Nachbarn lernen?

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In den Niederlanden scheint die urbane Verkehrswende gelungen: In Großstädten wie Amsterdam oder Utrecht liegt der Anteil des Radverkehrs bei bis zu 60 Prozent. Dass dies nicht an der Fahrrad-Verrücktheit unserer Nachbarn liegt, sondern die Folge von 30 Jahren konsequenter Radverkehrs-Förderung ist, stellte Thomas Gotthard vom ADFC Göppingen bei einem ebenso anschaulichen wie motivierenden Vortrag am 21.11.2019 in Ulm dar.

Auch in Holland wird gern und viel Auto gefahren. In den 1970er-Jahren kam es wegen zahlreicher tödlicher Fahrrad-Unfälle und einem drohenden Verkehrsinfarkt in den Städten zu massiven Protesten der Bevölkerung, die ein Umdenken in der Verkehrspolitik bewirkten. Der Referent ist häufig beruflich in den Niederlanden unterwegs und hat dort als überzeugter Radfahrer die Entwicklung über viele Jahre mit verfolgt. Dabei stellte er fest, dass die Radverkehrs-Politik in den Niederlanden einige wesentliche Unterschiede zu der unsrigen aufweist.

1. "Von unten" planen
Der Platz in den Städten ist begrenzt und die Verkehrsteilnehmer müssen ihn sich teilen. Dabei sind Fußgänger das schwächste Glied im städtischen Verkehr und bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. In der niederländischen Straßenplanung haben deshalb Fußwege die höchste Priorität. Sind die Fußgänger sicher untergebracht, folgen der Radverkehr mit eigenen, möglichst baulich getrennten Fahrspuren sowie der ÖPNV. Was danach an Raum zur Verfügung steht, wird möglichst effizient für den Autoverkehr genutzt. Betrachtet man z.B. die Ulmer Neutorstraße, zeigen sich andere Prioritäten: Erst im letzten Moment wurden notdürftig Schutzstreifen für Radler eingeflickt, die aber unterbrochen sind, sobald eine Abbiegespur für Autos gebraucht wird. So bringt man keine Menschen aufs Rad.

2. Sichere Kreuzungen
Die meisten Fahrrad-Unfälle passieren an Kreuzungen und Einmündungen. Kreuzungen für Radfahrende sicher zu machen, ist daher Standard in den Niederlanden. Radwege führen getrennt vom Autoverkehr (auch dem parkenden) an die Kreuzung heran, wo kleine Schutzinseln an den Ecken geschützte Bereiche für Radler schaffen (s. Foto). Dies erhöht die Sicherheit, auch die gefühlte. Denn der Hauptgrund, nicht Rad zu fahren ist, dass man sich nicht sicher fühlt.

3. Man muss Veränderung wollen
Erst kürzlich wurde der Ulmer Radverkehrsetat auf 1 Million Euro erhöht und die Einrichtung einer weiteren Stelle beschlossen. Das ist ein erfreulicher Schritt in die richtige Richtung! Pro Einwohner macht das einen Betrag von rund 8 Euro pro Jahr aus. Zum Vergleich: In holländischen Städten gibt man pro Kopf im Schnitt 30 Euro, in Utrecht 130 Euro für den Radverkehr aus. Eine ganz andere Größenordnung. Betrachtet man z.B. die neue Tiefgarage am Ulmer Hauptbahnhof für geschätzte 60 Millionen Euro oder die anstehende Sanierung der Donaubrücken für 220 Millionen Euro, kann man schon mal über Prioritäten nachdenken, denn diese Kosten entstehen allein durch den Autoverkehr.

4. Weg vom "Kampf auf den Straßen"
Hierzulande wird gerne über andere Verkehrsteilnehmer geschimpft. Monströse SUVs, rücksichtslose Kampfradler, abgelenkte "Smombies" auf den Straßen… Mehr und breitere Straßen sollen Staus vermeiden, ziehen aber immer mehr Verkehr in die Städte. Klar ist auch: Wer die Verkehrswende will, muss Autofahrern Platz wegnehmen. Das gibt böses Blut. Die Niederländer denken pragmatischer. Fast alle haben auch dort ein Auto, nutzen aber jeweils das praktischste und schnellste Verkehrsmittel. Und das ist für Kurzstrecken in der Stadt nun mal das Fahrrad, wenn es die entsprechende Infrastruktur gibt. Viele innerstädtische Verbindungen sind deshalb nur für den Radverkehr durchgängig, während der motorisierte Verkehr über Umgehungen geleitet wird. Letztendlich entlastet jede/r Radfahrer/in ja auch die Straßen für den Autoverkehr. 

5. Den ersten Schritt zuerst gehen
Was nutzen ein hypermoderner Fahrrad-Verleih oder Griffe an Ampelmasten, wenn es keine durchgängigen Radwege gibt? Die Niederländer haben sich zuerst auf das Wesentliche konzentriert – konsequente Streckenplanung und Ausbau einer grundlegenden Fahrrad-Infrastruktur. Damit sind sie uns um rund 20 Jahre voraus. Veränderung geht nicht von heute auf morgen. Wer allerdings mit Einzelmaßnahmen beginnt, Radwege unter Finanzierungsvorbehalt stellt und nur dort agiert, wo es den Autofahrern nicht weh tut, wird nur Flickwerk erreichen und niemanden zum Umstieg aufs Fahrrad bewegen.

Ausreichend Fahrradabstellplätze sind in den Niederlanden Standard an Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen.

Text: Thomas Dombeck, Fotos: Thomas Gotthard