Ein Hai beißt sich durch
Luis Hundhammer sitzt im Rollstuhl und macht einen knallharten Sport: Rollstuhlrugby. Seine große Leidenschaft. Manchmal spielt er sogar in der zweiten Bundesliga.
Ein Rollstuhlfahrer rast mit Karacho in den Rollstuhl eines anderen. Es scheppert durch die Illerrieder Ballsporthalle. Der, der da in den anderen rein gefahren ist, hat sein Ziel erreicht: ausgebremst. Den Gegner aus Bayreuth. Und der Bayreuther war schon gefährlich lange mit dem Ball auf dem Schoß - einer Art Volleyball - unterwegs. Er hatte einen guten Lauf. Nicht viel hätte gefehlt und er wäre mit dem Ball über die Torlinie der Donauhaie Illerrieden gefahren. Acht Meter ist das Tor breit, zwei orange Hütchen sind aufgestellt. Heute kämpfen die Donauhaie Illerrieden zu Hause gegen das Team aus Augsburg und Bayreuth. Regionalliga.
Der Hai, der das Tor vermieden hat, heißt Luis Hundhammer. Normalerweise ist er ganz friedlich, aber wenn er auf dem 15 mal 28 Meter großen Rugbyfeld hin und her düst, unentwegt seine zwei Räder anschiebt, dann packt ihn einfach der Ehrgeiz - und der 19-Jährige sein Repertoire an spielerischen Techniken aus. Dann beißt der Hai.
Luis Hundhammer kommt aus Blaustein. Den Dienstag hält er sich jede Woche frei fürs Rugbytraining in Illerrieden. In Ulm haben die Haie keine Halle gefunden, in der sie regelmäßig trainieren können. "Ich merke, wie gut es mir tut, einmal die Woche Sport zu machen, mich zu bewegen. Und es ist toll, wenn man dann die anderen wieder sieht, sich austauschen kann." Diese anderen kommen unter anderem aus Memmingen, Nürtingen und Bad Waldsee. Die nächsten Rollstuhlrugby-Vereine sind in der Nähe von Stuttgart und Augsburg. Eine seltene Sportart.
Seit fünf Jahren spielt Luis Rugby, manchmal auch in der zweiten Bundesliga. 2Ich war immer der Jüngste und bin es auch heute noch." Die anderen Haie sind 28 bis 60 Jahre alt. Viele sind auch deshalb so alt, weil sie erst spät zu diesem Sport gekommen sind. Dafür mussten die meisten erst einen Unfall haben.
Bei Luis war das anders. Er sitzt schon, seit er denken kann, im Rollstuhl. Im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester hat er im Mutterleib ab der dreißigsten Woche zu wenig Sauerstoff bekommen. Das blieb nicht folgenlos: Regionen im Hirn, die für die Motorik zuständig sind, wurden nicht ausreichend ausgebildet. Luis kam mit Spasmen an Händen und Beinen zur Welt, die ihm "ab und zu mal rein schießen", wie er sagt. Seine Arme und Beine kann er nicht richtig ausstrecken. "Ja, das ist alles ziemlich doof gelaufen, aber wenn ich die anderen hier sehe, wie die so da stehen, dann denke ich mir: Zum Glück hab’ ich nur ne kleine Spastik abbekommen. Ich kann noch zwei, drei Schritte laufen. Die anderen sind halt komplett an ihren Rollstuhl gebunden."
Und doch ist es so: Man sagt einfach ja, "mit beiden Beinen im Leben stehen", und meint, dass man sein Leben gut meistert. Luis stand nie fest mit seinen Beinen auf dem Boden. Und tut es doch erstaunlich gut in seinem Leben. Er hat seinen Führerschein gemacht und nächstes Jahr steht sein Abi am Ulmer Friedrich-List-Wirtschaftsgymnasium an. Schon recht sicher weiß er, was er beruflich will. In der öffentlichen Verwaltung arbeiten. "Ein sicherer Job", sagt er und lächelt. Nicht aber weiß er dagegen, wie es ist, wenn einen zwei Beine durch die Welt tragen, wenn man mit ihnen durch die Gegend rennen kann oder sie selber mal hochlegen, wenn auf sie Verlass ist. Rennt er in seinen Träumen? "Nein, das ist noch nie passiert."
Die meisten, die hier auf dem Spielfeld der Illerrieder Ballsporthalle mit ihren fahrbaren Untersätzen hin und her schießen, haben bereits Jahre lang ein aufrechtes Leben verbracht. Viele waren dabei schon immer sehr sportlich, gingen Laufen, spielten Volleyball, fuhren Ski, Snowboard oder Mountainbike. Bis zum "Tag X", den sich jeder von ihnen eingebrannt hat. Luis: "Manche sind vom Motocross geflogen. Am häufigsten aber sind hier die Motorradfahrer." Früher sei der Badeufall die Nummer eins gewesen - ein Sprung ins Wasser, das nicht so tief ist wie gedacht. Auch Dachdecker sind im Team. Damit haben sie sich qualifiziert für Rollstuhl-Rugby. Denn Voraussetzung dafür sind mindestens drei nicht funktionsfähige Gliedmaßen. Mindestens. „Mehr geht immer“, sagt Luis und lacht. Dann denkt er eine Weile nach und sagt: "Wenn man durch einen Unfall in den Rollstuhl kommt, kann ich mir vorstellen, dass man erst ne kleine Krise hat, weil sich das Leben um hundert Prozent dreht." Einen sportlichen Vorteil, weil er den Umgang mit dem Rollstuhl schon seit seiner Kindheit gewöhnt ist, sieht er nicht. "Wenn man den Sport ein halbes Jahr intensiv ausübt, hat man den sportlichen Umgang damit drauf."
Wer die Mannschaft zusammen stellt, muss beim Behindertensport rechnen können. Denn jeder Spieler wird klassifiziert nach Punkten. Luis zeigt seinen Spielpass. „0,5“ stehen da drauf. „Stark behindert“, bedeutet das. Der Ausweis müsste aktualisiert werden, vor fünf Jahren war er erst 14 und musste gegen Ältere mit mehr Kraft spielen. Da wurde er geringer eingestuft. Doch er lacht und ist froh über die niedrige Punktzahl. Denn die ist gut für sein Team: Auf dem Platz dürfen nämlich immer nur maximal sieben Punkte. Wird ausgewechselt, kann es sein, dass ein Spieler vom Platz geht und zwei andere für ihn rein kommen. Luis ist also besser als die Punktzahl auf dem Ausweis und so können mit ihm immer noch Spieler mit hoher Punktzahl aufs Feld. Werden die sieben Punkte überschritten, wird das als „technisches Foul“ geahndet.
Bei der TSG Söflingen gibt es Rollstuhl-Basketball. Das fiel für Luis aber flach, weil da die Voraussetzung nur zwei nicht einsatzfähige Gliedmaßen sein dürfen. Basketball wäre für ihn auch nicht machbar, weil er den Ball in den Korb in drei Metern Höhe werfen müsste. Das geht aber nicht, weil sein Arm ja immer leicht angewinkelt ist. So ist gezieltes Werfen und Fangen schwer. Luis’ Vater Uwe Hundhammer sagt: „Basketball war zuerst da. Aber dann sind die mit mehr Lähmungen bloß herum gestanden, so ist Rollstuhlrugby entstanden.
Genauer gesagt: In den 70ern in Kanada, wo es Murderball genannt wurde. Was die Sportart allerdings mit einem Mörder zu tun hat, weiß Luis auch nicht. In den USA hieß sie dann Quad Rugby, in den 80ern wurde der Sport außerhalb der USA offiziell in Rollstuhlrugby umbenannt. Heute wird es in zwanzig Ländern gespielt. Hoch qualifizierte Teams stellen vor allem Neuseeland, Australien und England. In Deutschland etablierte sich Anfang der 90er Jahre in der Nähe von Heidelberg die erste Mannschaft. Mittlerweile gibt es eine europäische Champions League und drei Ligen in Deutschland. Die Bundesliga ist in die drei regionalen Ligen „Süd“, „Nord“ und „Ost“ unterteilt. In Köln wird seit 2001 sogar jedes Jahr das größte Turnier der Welt - das Bernd-Best-Turnier - ausgetragen, bei dem Teams aus ganz Europa und auch Nordamerika in allen Ligen aufeinander treffen. Seit 2000 ist Rollstuhlrugby auch paralympische Disziplin.
Fünf Jahre ist es her, dass Luis den Sport für sich entdeckt hat. „Mir macht es solchen Spaß, weil ich da richtig Gas geben kann und Rugby sehr kontaktfreudig.“ Was so nett klingt, ist hier anders gemeint. Klar, freut er sich, dass er in einem Team spielt, aber er meint anderen Kontakt. Hier geht’s zur Sache mit den Rollstühlen. „Wenn man aber in höheren Ligen spielt, gibt’s immer weniger Kontakt, weil mehr mit Taktik gearbeitet wird. Dann passiert schon viel vor dem Einwurf.“ Denn das Ziel ist eigentlich: „Man will möglichst vermeiden, den Ball zu passen, weil viele Spieler eine eingeschränkte Handfunktion haben. Der Spieler soll den Ball bekommen, alle anderen machen den Weg frei und er fährt dann möglichst durch.“ Mit dem Ball über die Torlinie. So die Optimalvorstellung.
Die Rollstühle müssen also einige Crashs aushalten. Es sind deshalb keine „normalen“ Rollstühle sondern Spezialanfertigungen aus extra gehärtetem Aluminium, die bis zu 10.000 Euro kosten können. So viel wie ein Auto. Je nachdem, ob die Rollstühle für einen Angreifer oder Verteidiger bestimmt sind, haben sie einen Metallbogen vorn, um das Gefährt herum (Angreifer) oder ein Metallteil, um den Gegner gut zu verhaken (Verteidiger); Die Reifen sind schräg gestellt. Während des Spiels tragen die Spieler Handschuhe, die rutschfest beschichtet sind, sodass sie der Ball besser in der Hand gefangen werden kann und in der Hand bleibt.
Rollstuhl-Rugby - ein rabiater Sport, den also Menschen betreiben, die ihre Beine und teils ihre Arme eh schon nicht mehr bewegen können. Luis wiegelt ab: „Es passiert nicht viel. Mich hat es insgesamt nur fünf Mal umgehauen, seit ich den Sport mache. Und aus dem Rollstuhl fliegt man ja nicht raus, weil die Beine und der Oberkörper angegurtet sind. Das sieht spektakulärer aus, als es ist.“
Luis meistert die Hürden in seinem Leben und lacht viel. Er hadert nicht mit seinem Schicksal. Wenn er allerdings in Ulm unterwegs ist, dann wird er manchmal ausgebremst. In seiner Mobilität. Wenn zum Beispiel der eine oder andere Randstein zu hoch ist. In die Straßenbahnen kann er gut hinein fahren, bei manchen Bussen hat er aber Probleme. Nicht alle haben eine Rampe oder diese Rampe ist mal wieder defekt. Wenn dann doch mal ein paar Treppenstufen im Weg sind, kann er sich oft an einem Geländer hoch hangeln und sich den Rollstuhl kurz hoch tragen lassen.
Und wenn der 19-Jährige in Ulm am Wochenende feiern gehen will… „Dann muss ich immer gleich schauen, wenn ich in einen Club gehe, wo die Toilette ist.“ Da sind nicht alle so fürs Weggehen geeignet. „Viele sind ja auch in älteren Gebäuden oder im Untergeschoss.“ Kürzlich aber war er zum ersten Mal im Theatro, einem Club in der Ulmer Fußgängerzone. „Die haben sogar eine extra Rollstuhl-Toilette“, erzählt er begeistert.
Eigentlich vermeide er es aber eher, in Clubs zu gehen und trifft sich lieber bei Freunden. „Die meisten Clubs sind sehr voll und ich sitze immer auf der Höhe, wo ich den Leuten vor mir immer auf den Hintern schauen muss.“ Auf den Weihnachtsmarkt geht er auch nur, wenn wenig los ist, weil er gerne im Gedränge übersehen wird. Ähnlich beim Einkaufen: „Und wenn ich hinter der Theke beim Bäcker stehe und sage, dass ich etwas bestellen möchte, dann läuft die Verkäuferin an einem vorbei… Nicht so toll“, sagt er lachend. „Aber die Leute sind ja immer sehr freundlich, wenn sie es merken.“
„Stehen“ - Wenn man Luis eine Weile zuhört… Ständig steht er in seinen Sätzen.
Isabella Hafner