Ein Viertel wird schick gemacht

Lesezeit
4 Minuten
Gelesen

Ein Viertel wird schick gemacht

Erstellt in:
0 Kommentare

„Dichterviertel“ - ja das klingt gut. Da sollte man wohnen. Das Ulmer Dichterviertel allerdings heißt so, weil Straßennamen auf Dichter wie Schiller, Goethe, Kleist, Hauff und Mörike zurück führen. Die Realität dieses Quartiers: Es ist ein Mischmasch von flachen Gewerbe- und verschnörkelten Altbauten sowie charmelosen Nachkriegshäusern, dann schlängelt sich da noch die Blau mitten hindurch, ein paar Enten schnattern, hier ein Spielplatz, dort das Schubart-Gymnasium und Relikte der Bundesfestung. Dieses Mischmasch ist eingeklemmt zwischen dem Schienenstrang des Bahnhofs, dem stark befahrenen Ulmer Verkehrsknoten „Ehinger Tor“ und dem ebenfalls stark befahrenen Hindenburgring - der B10, die entlang des Dichterviertels Ulm zerschneidet.

Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein lag das Gebiet, das damals noch „Bei der Lohmühl“ hieß, vor der Befestigungsanlage und wurde überwiegend landwirtschaftlich genutzt. Als die Wallanlagen zur Bundesfestung erweitert wurden, gehörte es ab 1844 zum Ulmer Stadtgebiet. Auf den Flächen der alten Befestigungsmauer entstanden dann vier Jahre später der Ulmer Hauptbahnhof und die Gleise. Zwischen 1903 und 1912 und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist der Wall zurück gebaut worden, genauso der Großteil der Festungsbauwerke. Entlang der Festungsanlage entstand ab 1960 die B10.

Nun könnte man natürlich sagen: Das Viertel liegt gut, man ist schnell aus der Stadt draußen, wenn man auf der B10 Richtung Süden zur A7, ins Allgäu, will. Und in anderer Richtung ist man auf der B10 schnell oben auf dem Eselsberg - in der Wissenschaftsstadt und an den Kliniken - oder dann eben auf der A8 Richtung Stuttgart. Ums Eck liegt außerdem das Gewerbegebiet der Blaubeurer Straße. Noch näher: der Bahnhof. Wenn die Alb bald fertig durchbohrt ist, geht’s für den, der im Dichterviertel wohnt, in einer halben Stunde nach Stuttgart. Wenn man das Negative sieht, sieht man mehr die sich kontinuierlich mit Autos nachfüllenden Abbiegespuren, ahnt ihren Smog, hofft, dass die Lärmschutzwände etwas Lärm abhalten.

Wer am Ehinger Tor abbiegt ins Dichterviertel, noch vor dem Hochhaus, der kommt an einem arabischen Lebensmittel-Laden und einem spanischen Restaurant vorbei, die beide in einem hübschen württembergischen Klinkerhaus aus der Gründerzeit liegen. Rechterhand: Schienen und der ausgelagerte Busbahnhof. Dann das Landratsamt, das gerade einen Anbau bekommt. Es geht vorbei an einem türkischen Imbiss, an einem Autoschilder-Laden, an einem Kiosk und einer in die Jahre gekommenen Kneipe. In diesem Viertel ist das Unperfekte, Verranzte, Verlebte mit Biografie zu Hause; hier wird der Drang zum Entdecken aktiviert. Hier ist Ulm shabby schick und noch nicht fertig - kein geschlecktes Postkartenmotiv wie auf der anderen Seite der Bahnschienen, im Zentrum. Der Realist sieht hier die Makel, der Visionär aber das Potenzial.
Und das Potenzial sehen derzeit viele. Einige der Häuser aus den unterschiedlichen Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts sind frisch gestrichen und saniert worden, das Café Blau lädt neben dem Bächlein mit den Enten ein zu günstigem Mittagstisch, in der Nähe wird italienische Feinkost verkauft, vorn, an der Schillerstraße, haben junge Wilde - zwei frisch gebackene Abiturienten der Ulmer Waldorfschule - mit Unterstützung der Stadt ein altes Bahnhofsgebäude erobert und nun einen Treff für junge Ulmer draus gemacht: das „Gleis 44“. Seit diesem Herbst finden in dem mit Graffiti gestalteten Backsteingebäude mit dem Innenhof verschiedene Konzerte und Kreativ-Workshops statt, es gibt eine Open-Air-Bar und viel Raum, um sich selbst auszuprobieren. Das Konzept zieht an. Am Wochenende überqueren Studenten und junge Berufstätige die Bahnbrücke und fallen quasi ins Gleis 44.

Auch die Stadt kennt das Potenzial: Sie hat das Dichterviertel im Jahr 2007 zum Teil des Sanierungsgebiets Weststadt ausgerufen und 2011 als eigenständiges Sanierungsgebiet beschlossen. Sie möchte in dieser Top-Lage neben Innenstadt und Bahnhof ein „attraktives Quartier für Wohnen und Dienstleistung“ erschaffen und es besser verknüpfen mit den angrenzenden Quartieren. Wohnraum für rund 1600 Menschen soll entstehen. Dazu sollen 800 Wohnungen neu gebaut werden und „brach liegende Areale vitalisiert werden“, auch neue Plätze sind geplant.

Dem Ulmer Investor „Pro Invest“ kommen die Pläne der Stadt Ulm gerade recht. Er hat sich auf Flächen im Nordteil des Dichterviertels, an der Kleiststraße, gestürzt und vermarktet bereits seinen Gebäudekomplex am lauten IKEA-Kreisverkehr mit dem Slogan „6 Gründe für Lifestyle unter Dichtern“: Der Komplex besteht aus 74 Eigentums- und Mietwohnungen sowie einem Vier-Sterne-Hotel „Leonardo Royal“ mit 148 Zimmern. Über dem Hotel befinden sich ein Veranstaltungsraum, Konferenzräume und zwei Büroeinheiten.

Auf der Internetseite wirbt der Investor: „Den Puls der Zeit mitten im Geschehen spüren. Die Freizeit in der Natur genießen. Leben, wo Poeten und moderner Zeitgeist zusammentreffen. Ein Dreiklang zwischen Arbeit, Wohnen und Freizeit“ und  – „eine langjährig stillgelegte Industriebrache erwacht zu neuem Leben“. Seit Frühjahr 2016 sei die Firma als Pionier in einem neuen, Ulm prägenden Stadtquartier aktiv geworden und lobt sich selbst für die Maßstäbe, die sie für die Qualität des gesamten Quartiers setze. Im zweiten Bauabschnitt werden bis 2020 an der Mörike-Straße 111 Mikro-Appartements inklusive Rooftop-Lounge für Pendler gebaut und in Richtung des neuen Stadtplatzes 59 seniorengerechte Wohnungen.

Im Zentrum des Dichterviertels soll nämlich ein „urbaner Stadtplatz“ entstehen. Den Plänen zufolge wird dann die südlich gelegene Kleine Blau über Uferterrassen erreichbar sein „und damit intensiver erlebbar“ von den Bewohnern. Der Platz soll die Innenstadt-Achse mit dem Dichterviertel verbinden. Von dort aus  führen dann zwei Verbindungen zum nordwestlich gelegenen Glacispark. Auch neue Rad- und Fußwege-Verbindungen sind geplant.

Gleich hinterm Böblinger Turm, einem Überrest der Ulmer Bundesfestung, gärtnern seit Herbst 2017 etwa zwanzig Studenten, Familien, Alleinstehende, Senioren und Mitglieder des Reha-Vereins, der im Dichterviertel ansässig ist. Birgit Reiß, die das Projekt „Nachbarschaftsgarten“ von der AG West aus voran getrieben hat, erzählt von einem tollen Miteinander. Viele der Beteiligten kämen aus dem Dichterviertel oder aus angrenzenden Gebieten. Etwa 25 Hochbeete haben sie schon aufgebaut auf dem alten Parkplatz der Wagnergrundschule. Statt grauem Asphalt sieht man es nun hier wachsen und Gedeihen. Birgit Reiß: „Wer mitmacht, kann sein eigenes Beet haben und pflegen. Es gibt aber auch Gemeinschaftsbeete, zum Beispiel mit Kräutern - da dürfen sich auch Fremde mal was abschneiden.“

Nicht nur während des gemeinsamen Gärtnerns sondern bei Aktionen, wie zum Beispiel dem Rauhnachtfest oder Workshops zum  ökologischen Gärtnern lernen sich die Dichterviertel-Leute besser kennen. „Wir haben auch eine Rentnerin, der ein eigener Garten zu viel ist. Hier kann sie ungezwungen mitmachen und es gießt auch mal wer anders ihr Beet mit.“ Der Garten ist frei zugänglich für jeden. Mit Vandalismus habe es noch keine Probleme gegeben, allerdings hätten Unbekannte sich dieses Jahr unter anderem an Tomaten bedient - das bedauert die Initiatorin und sucht nach einer Lösung. Dennoch: Der Garten trägt Früchte - nicht nur zum Essen sondern auch, was das Soziale angeht. Er verbindet Menschen. Im Mischmasch des Dichterviertels. Für etwa sechs neue Hochbeete wäre zur Zeit noch Platz…

Isabella Hafner