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Der Hashtag #stayhome kursiert seit Corona. „Social distancing“ ist angesagt: Abstand halten. Gleichzeitig erfahren viele in der Coronakrise ungeahnte Nähe. Nachbarschaften erstehen plötzlich auf. Das hat auch Isabella Hafner erlebt, als sie krank war.

Es ist ruhig geworden da draußen. Nur die Vögel veranstalten eine Frühjahrsparty. Ob sie trotzdem  wohl merken, dass etwas anders ist? Dass die Menschen nur kleine Runden drehen, nicht weit weg von zuhause, während sie da draußen in aller Freiheit durch die Luft flattern. Wohin sie wollen. Noch nie war ich auf einen Vogel neidisch. Jetzt schon. Noch nie habe ich so intensiv die Natur vor meinem Fenster wahrgenommen wie jetzt - wo ich nicht raus soll. Monate lang ertrug ich den Ulmer Winterschlaf: Jetzt, wo die Natur ihr Leben wieder protzend zur Schau stellt, der Himmel sich blau färbt, heißt es: Nur gucken. Ich bin in Quarantäne.

Während ich aus dem Fenster schaue, höre ich eine Stimme - und sehe einen Mann, der auf einem Grasstreifen vor dem Seniorenheim gegenüber steht. Er schaut zum Balkon hoch.  Man könnte ihn für einen Minnesänger halten, einen Freier. Doch er singt nicht, sondern unterhält sich. Vermutlich auch nicht mit seiner Angebeteten. Sondern seiner Mutter. Sie darf auf keinen Fall raus. Seit Corona. So wie ich eben.

Ich bin seit eineinhalb Wochen krank. Und fühle mit der alten Frau vom Balkon gegenüber. Noch nie waren wir uns so ähnlich. Auch wenn sie Risikogruppe ist und deshalb nicht raus darf. Und ich keine Risikogruppe bin, aber sie anstecken könnte. 

Viele andere Senioren sind alleine in ihrer Wohnung. Vor Corona. Während Corona. Nach Corona. Ich denke an sie. Denn nun spüre auch ich, wie abhängig ich bin von der Hilfe anderer. Ich wohne alleine. Nie ist es ein Problem. Jetzt schon. 

Ich weiß noch nicht, ob ich nur eine Grippe oder starke Erkältung habe oder Corona. Falls es Corona ist, darf ich keine Türklinke im Treppenhaus anfassen, ich darf nicht in den Supermarkt.

Doch irgendwann ist es einfach so: Die Milch ist aus, der Hustensaft, das Duschgel. Und ja, innerhalb der zwei Wochen auch: das legendäre Klopapier. Wie froh ich bin, dass meine Nachbarn an mich denken und fragen, ob sie mir etwas mitbringen sollen, wenn sie einkaufen gehen. Auch Freunde tun das. Ich freue mich! Und merke: Ich versuche, möglichst wenig zu brauchen. Und nichts Spezielles. Damit meine Helfer nicht so viel Zeit in meine Einkäufe stecken müssen. 

Dann sitze ich wie eine Rentnerin in meiner Wohnung und warte und warte, auf das einzige Highlight: Blingggg! Als mein Handy sich meldet, habe ich die Nachricht meiner Nachbarin auf dem Display: „Schau vor deine Tür!“ Ich öffne und bin gerührt. Klopapier!

Leider geht einen Tag später nochmal etwas Dringendes aus. Daran hatte ich vergessen zu denken. Meine Nachbarn will ich nicht schon wieder fragen. Doch ich könnte ja das neu entstandene Onlineportal ulmhilft.com ausprobieren. Die Seite hat der 26-jährige Student Hannes Metzger geschaffen, als Corona gerade anfing, unseren Alltag in Beschlag zu nehmen. 

Innerhalb von ein paar Wochen haben sich mehr als 700 Personen aus Ulm gemeldet, die zum Beispiel anbieten, für jemand Fremden Einkaufen zu gehen, Hunde Gassi zu führen, Dinge zu teilen, auf die Kinder aufzupassen - oder: einfach nur miteinander zu telefonieren. Da nicht jeder, der Hilfe braucht, im Internet schaut, hat Hannes Metzger einen Flyer auf die Seite gestellt, den Helfer ausdrucken und irgendwo draußen aufhängen können. 

Auch in meiner Nachbarschaft entdecke ich vier Angebote. Soll ich? Ich kann nun Senioren gut verstehen, die auch in Nicht-Corona-Zeiten Hilfsangebote ablehnen, mit Ach und Krach versuchen, lieber auf etwas zu verzichten oder es selbst hin zu bekommen. Man fühlt sich bittstellerisch. Und denkt: Jemand anders braucht die Hilfe dringender als ich.

Doch ich tu’s. Und bin neugierig. Ich melde mich bei Pia. Und mit dieser Reaktion hätte ich nicht gerechnet: Pia ist völlig aus dem Häuschen. Endlich melde sich mal jemand auf ihr Angebot hin. Liebend gerne würde sie für mich etwas besorgen. Auch gerne nicht nur einmal. Wow! Pia erzählt, sie habe gerade mehr Zeit, weil sie als Lehrerin im Homeoffice arbeite. Und es dauert nicht lang, dann steht sie schon mit ihrer Lieferung vor der Tür.

Lange war Nachbarschaft nicht mehr so wichtig wie in dieser aktuellen Krisenzeit. Ob die Aufrufe in den Sozialen Medien, in der Krise die Geschäfte im eigenen Viertel zu unterstützen - mit Bestellungen, Spenden oder Gutscheinen, die man nach „Corona“ dann einlöst. Menschen hängen Taschen mit Lebensmitteln oder Hygieneartikeln für Bedürftige an Zäune, die in manchen Städten mittlerweile einen eigenen Namen haben: Gabenzäune. Etliche Plattformen sprießen, die Menschen in diesen Zeiten miteinander verbinden wollen.

Insgesamt ist zu beobachten: Seit Social Distancing gefragt ist, scheint plötzlich bei vielen die Sehnsucht groß, mit seinen Nachbarn in Kontakt zu kommen. Vielleicht weil man sich als Schicksalsgemeinschaft sieht? Weil über, unter, neben einem die Homeoffice-Arbeitsplätze eingerichtet wurden, oder wie mein Nachbar von unten ganz am Anfang lachend sagte: „Wir sind jetzt ein Bürokomplex!“ Über mir Lehrer, unter mir sein IT-Büro, ich Journalistin… Man tauscht sich aus in und über diese merkwürdige Zeit. Nähe ist wieder anziehend. 

Isabella Hafner


Hilfsangebote und Nachbarschaftsnetzwerke

ulmhilft.com

nebenan.de (auch als App)

coronahilfe.ulm.de

Facebook-Gruppe #CoronaCare 

ebay Kleinanzeigen (auch als App)

crossiety.de

HelpingHands (auch als App)

QuarantäneHelden.org (auch als App)