Die Viertelstunden-Stadt

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Die Viertelstunden-Stadt

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In 15 Minuten im Café, in der Arbeit, in der Schule, beim Bäcker, Lebensmittelladen und im Park. Zu Fuß, mit dem Rad, mit Bus beziehungsweise Bahn. Das Konzept der 15-Minuten-Stadt wird heiß diskutiert. Städte sollen funktionieren wie Dörfer. Auch in Ulm?

Man stelle sich vor: Egal, wo ich in Ulm wohne - alle wichtigen Dinge des Lebens erreiche ich in höchstens einer Viertelstunde. In meinem Viertel. So muss ich, genauso wie dann auch viele andere, eben nicht mehr durch die Stadt hechten, um mein Kind in die Schule zu bringen, um zu meinem Arbeitsplatz zu gelangen, um mich mit einer Freundin im Café zu treffen, um einzukaufen, um Schwimmen zu gehen. Nein. Ich lasse das Auto stehen. Genauso wie viele andere. So wird Platz frei. Platz, den vorher Autos genutzt haben. Parkplätze zum Beispiel. Weniger Autospuren sind nötig. Wunderbar! Damit kann man was anstellen…

Carlos Moreno ist Städteplaner, forscht an der Pariser Sorbonne Universität und hat sich die 15-Minuten-Stadt ausgedacht. Er berät die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo dazu. Die nämlich will Paris grüner und die Luft sauberer machen. Sie war übrigens auch die, die sich dafür eingesetzt hat, dass SUV-Fahrer dreimal so viel fürs Parken zahlen müssen. In Paris hat sie dahingehend schon einiges im Stadtbild umgekrempelt, Autos verbannt, Radwege bauen lassen. Eine riskante Geschichte… Ein Jahr nach ihrem Amtsantritt bewertete sie nur noch jeder dritte Pariser positiv. Doch sie bleibt hartnäckig bei ihrer Mission.

Morenos Grundanliegen ist Nachhaltigkeit. Der Verkehr verursache Smog und Lärm. Einen großen CO2-Fußabdruck. Die Menschen sollten weniger aufs Auto angewiesen sein, findet er. Das tue auch deren Psyche gut. Genauso wie lebendige Nachbarschaften. Die seien mit zunehmendem Wachstum von Städten nämlich auseinander gebrochen. Das eigene Stadtviertel sollte  seiner Meinung nach funktionieren wie ein Dorf. Dort sollten die Bewohner alles finden, was sie zum Leben brauchen. Auf Kreuzungen, Straßen und Parkplätzen - die nun ja weniger gebraucht werden - könnten sich Wochenmärkte niederlassen, es könnten Spielplätze entstehen, grüne „Reservoirs“, wo Menschen zusammen kommen, wo Kreativität stattfinden kann; es wäre mehr Platz für Orte, wo Menschen gemeinsam essen und trinken, es wäre mehr Platz für den ÖPNV. Die Autos sollten sich den Radlern und Fußgängern unterordnen - und nicht andersherum. Nebeneffekt: Die Menschen sparten jeden Tag Zeit und hätten plötzlich mehr davon. Das alles mache die Städte resistent für die Zukunft. Widerstandsfähig. Denn sie sind besser für den Klimawandel gerüstet, können durch die Grünflächen Hitze besser ausgleichen. Und auch stabile Nachbarschaften sorgten für robuste Gemeinschaften, für soziales Miteinander.

Mittlerweile bewegt das Konzept der 15-Minuten-Stadt Städte wie Wien, Bern, Hamburg, Brüssel, Mailand, London und Berlin. In Gemeinderäten und Bau- und Architekturzeitschriften wird es glühend diskutiert. Auch für Ulm sieht Baubürgermeister Tim von Winning Chancen dafür. Wobei er sich mit dem Begriff des „Dorfs“ in der Stadt schwer tut: „Der Begriff ist nicht ideal. Wenn ich an meine Jugend im Dorf denke, dann hat das sehr viel mit langen Wegen zu tun. Also mit vielen Autofahrten, die man machen musste.“ Das Bild eines Dorfes von vor hundert Jahren, das stimme: „Das bildet das Leben ab.“

Die 15-Minuten-Stadt sei nichts ganz Neues, sagt der Baubürgermeister. „In den 90er Jahren, als ich studiert habe und danach, als mein Berufsleben anfing, sprachen wir über die Stadt der kurzen Wege. Da probierten wir das in vielen Quartiersentwicklungen aus.“ Man wollte es anders machen als in der Nachkriegszeit, als funktionsgetrennte Quartiere gebaut wurden: Hier das Wohnen, dort das Arbeiten; hier das Einkaufen, dort das Sportzentrum. Von Winning: „Weil man dachte, es sei leichter zu leben, wenn alles geordnet ist. Man nahm damit aber auch weite Wege in Kauf.“ Seiner Meinung nach könnte das auch mit einem Grundgefühl zu tun haben. „Viele  denken: Große Einheiten sind wirtschaftlicher als kleine. Wir bauen große Kitas; wir bauen nach wie vor große Einkaufszentren, obwohl wir wissen, dass Nahversorgung nur dann funktioniert, wenn es viele kleine gibt und nicht einen großen."

Im Gegensatz zu früheren Ansätzen legt die 15-Minuten-Stadt den Fokus aber noch mehr auf die Verkehrsabwicklung, sagt Tim von Winning. „Während die ,Stadt der kurzen Wege’ mehr auf die Nutzung abzielte. Beispiel Universumcenter.“ In dem 22 Etagen hohen Hochhaus am Ehinger Tor, eröffnet 1970, gibt es mittlerweile neben hundert Wohnungen 29 Läden auf zwei Ebenen, darunter Dönerläden, und es gibt eine Moschee. Als es eröffnet wurde, galt es als wegweisend für die Stadtgestaltung. Als „Insel der Zukunft“, bezeichnete die Südwest Presse das Hochhaus. „Aus städtebaulicher Sicht ist es aber kein guter Städtebau“, kritisiert heute von Winning den Bau. Riesengroße Straßen zingeln es ein, unten ist eine Art Souterrain-Marktplatz, „an dem viele nicht gerne lang gehen“.

Dass beim Konzept der 15-Minuten-Stadt der Paradigmenwechsel im Verkehr so eine große Rolle spielt, gefällt von Winning. Auch die Stadt Ulm versucht, die Innenstadt zunehmend vom Verkehr zu entlasten: durch höhere Gebühren fürs Anwohnerparken, Fußgängerzonen, weniger Straßenspuren. Stattdessen werden Radwege ausgebaut - siehe die neu sanierte Münchner Straße.

Als Beispiel für eine Denkweise in Richtung 15-Minuten-Stadt nennt der Baubürgermeister das gerade entstehende Quartier „Am Weinberg“ auf dem Eselsberg. Dort sollen bald rund 2.000 Menschen leben. Die Straßenbahnhaltestelle liegt vor der Tür, eine Kita wird gebaut, es sollen sich Geschäfte und ein Café in den Mehrfamilienhäusern ansiedeln. Außerdem soll es einen Wochenmarkt geben.

Radikaler, Carlos-Moreno-mäßiger wird allerdings in den größeren Städten gedacht. Dort wird in bestehende Strukturen in den Innenstädten eingegriffen. In Ulm ist man noch zurückhaltender. Ja, der Autoverkehr soll verringert und Radwege sollen gebaut werden, mehr Bäume sollen die Stadt säumen, die Landesgartenschau 2030 soll den Grüngürtel um die Wallanlagen aus dem Dornröschenschlaf küssen.

Aber dort, wo es sich so lohnen würde, massiv einzugreifen und Visionen zu wagen, weil mehrspurige Straßen Ulm zerschneiden, wo sich Fußgänger und Radfahrer gefährlich von (Verkehrs-)Insel zu Insel retten, dort bleibt zu viel beim Alten: am Ehinger Tor. Dächte man mutig, groß und weit in die Zukunft, nähme man viel Geld in die Hand und verlegte die Straßen in den Untergrund. Es entstünde dort, wo im Frühling wunderschön die Kirschbäume blühen, wo das ehrwürdige Schollgymnasium wunderschönen Gründerzeithäusern gegenüber hockt, eine grüne Oase. Vielleicht mit einem Mini-Amphitheater vor den Überresten des Ehinger Tors. Vielleicht stünden da zwei, drei Gewächshäuser, ein Naschgarten für alle, ein Café oder kleines Wirtshaus, in der die Ernte von vor Ort gleich verwurstelt würde. Es gäbe vielleicht Hühner und Schafe, einen Co-Working-Space (vielleicht sogar in einem der Gewächshäuser?), eine Werkstatt zum Kreativsein, eine Tausch-Laube, einen Wasserspielplatz, Gratis-Fitnessgeräte, Yogakurse auf der Wiese, Mal-Workshops, ein plätscherndes Bächle zum Spielen, einen imposanten Springbrunnen, ein Baumhaus, eine Freiluft-Bibliothek… Ulm, die lebenswerteste Stadt Deutschlands.

Isabella Hafner