Ulm, wie weit bist du?
Seit 50 Jahren wird der Christopher-Street-Day gefeiert, vor 25 Jahren wurde der Schwulenparagraf abgeschafft. Wie geht es Menschen, die nicht heterosexuell sind, in Ulm?
„Wenn ich liebe, liebe ich uneingeschränkt“, hat Hans Scholl geschrieben - Ulms Widerstandskämpfer der Weißen Rose. Nach seinem Tod fand man Dokumente eines ruhelos Suchenden, radikal Sehnsüchtigen und verzweifelt Liebenden. Scholl war vermutlich bi und wurde wegen seiner sexuellen Beziehung zu einem anderen Jungen strafrechtlich verfolgt, inhaftiert und kam vor Gericht. Vielleicht formte dieses Ereignis seinen immensen Widerstandsgeist…
Während zur damaligen Zeit viele Menschen Schwule, Lesben und Menschen, die bi waren nicht verstanden und als abnormal angesehen haben, bis hin zur Verhaftung, hat sich die Gesellschaft heute für andere sexuelle Orientierungen etwas mehr geöffnet. Darüber sind die Mitglieder des Vereins „Young and Queer Ulm“ froh. Der Verein zählt zur „LGBTTIQ“-Szene - was für lesbian, gay, bi, transsexual, transgender, intersexual und queer steht. Mit „queer“ schließt es auch alle Menschen ein, die sogenannte „nicht-normative“ Geschlechterrollen leben.
„Das Private ist immer Politisch“ - schrien die 68er. Doch wen geht es an, mit welcher sexueller Orientierung jemand durchs Leben geht? Es wäre egal, wenn die Akzeptanz dafür selbstverständlich wäre. Doch noch immer spüren Menschen, die nicht hetero sind, dass sie ein Problem sind. Das wurde auch an einem Mai-Wochenende in Ulm deutlich. Auf dem Münsterplatz wurden am Samstag ausgelassen „50 Jahre Christopher-Street-Day“ gefeiert. Gleichzeitig fand am Vorabend ein Gottesdienst mit rund hundert Menschen im Ulmer Münster statt. Viele von ihnen waren schwul, lesbisch oder auch trans, bi oder queer. Fühlten sich also entweder dem eigenen Geschlecht hingezogen oder beiden oder im falschen Körper geboren oder sogar geboren mit männlichen und weiblichen Geschlechtsanlagen gleichzeitig. Die „Young and Queer Ulm“-Gruppe hatte den Gottesdienst organisiert. Die „AfD Ulm/Alb-Donau kommunal“ schrieb auf Facebook: Das Ganze sei antichristlich, „Herr Dekan Gohl macht die evangelische Kirche wieder mal zum Gespött“.
Am Anfang war die Stimmung noch steif. Auf den Säulen des Hauptschiffes hingen Zettel, auf denen stand, Fotografieren verboten. Nicht jeder geht offen mit seiner sexuellen Orientierung um. Verunsicherung, Angst vor Reaktionen anderer, vor beruflichen Konsequenzen… 2019.
Hoch über den Köpfen projizierte die Abendsonne durch die gotischen Fenster buntes Licht an die sandfarbenen Steinwände. Der Traum der Besucher an diesem Tag: Eine Gesellschaft, von der das Bunte nicht nur toleriert sondern auch akzeptiert und gelebt wird. Viel Luft nach oben. Auch im Münster, bis zu den bunten Fenstern. Münsterdekan Wilhelm Gohl sagte, die Kirche habe lange gebraucht, um zu erkennen, dass Menschen als Geschöpfe Gottes unterschiedlich geschaffen sind. „Bis zu Galileo dachten die Menschen auch, die Sonne drehe sich um die Erde und nicht anders herum.“ Die Kritik, die Kirche ergebe sich dem modernen Zeitgeist, kann er nicht nachvollziehen. Doch jede Fiale, jede Kreuzblume, jede Säule zeigt in dem fast 700 Jahre alten Gotteshaus nach oben…
Chris Werneke hatte sich an diesem Abend in das Outfit einer Frau aus dem Rokoko geworfen. In ein pompöses Kleid. Genauer gesagt, in ein Outfit, das auch die französische Frauenrechtlerin aus der Zeit der französischen Revolution angehabt haben könnte: Olympe de Gouges. Sie kam unter die Guillotine. Chris will sie durch das Dress aufleben lassen.
Bis 2016 war Werneke Diakon, arbeitete in der Seelsorge und Schule. Er kündigte, um künstlerisch zu arbeiten. Etwa im freien Theater, wo er schon bei einer Revue mitgemacht hat. Kürzlich außerdem der Auftritt bei einem Konzert. „Da hatte ich ein schönes Abendkleid an!“ Er weiß, die künstlerische Szene ist liberaler. Trotzdem: „Wenn ich irgendwo auftauche, reagieren manche Leute schon krass und stellen sich weiß Gott was für Dinge vor.“ Gleichwohl weiß er es zu schätzen, wie weit sich die Gesellschaft entwickelt hat in den letzten Jahrzehnten. Er erinnert an Ulm 1990. Rafael Blumenstock wird mit 28 Jahren nachts auf dem Münsterplatz ermordet. „Bestialisch.“ Er war schwul. Und: „Es war krass: die Gerüchte in Ulm über die Schwulenszene, die Meinungen…“ Heute würden Diskurse offener geführt.
„Aber“, sagt die 26-jährige Sandra N. mit den langen blonden Haaren und weichen Gesichtszügen, die als Psychologin arbeitet. Sie ist lesbisch. „Wir haben in unserem ,Young & Queer Ulm’-Verein viele Jugendliche, die nicht geoutet sind. Und wenn wir in Schulen das Thema vermitteln, sehen wir, wie die Jugendlichen ticken. Da wird dann schon mal ein Mitschüler - trotz unserer Anwesenheit - mit den Worten geneckt: „Haha, du bist auch so ne Schwuchtel.“ Oder ein junges Mädchen „Kampflesbe“ genannt. Ein Schüler habe gesagt: „Ich würde mein Kinder lieber in Afrika im Slum aufwachsen lassen als bei schwulen Eltern in Deutschland.“ Sandra hat sich mit 14 geoutet. Es hieß: „Du bist doch nur verwirrt.“
„Lesben verschwinden, das ist unheimlich“, stellt Chris Werneke fest. „Ein Thema zur Zeit.“ In Berlin gäbe es zum Beispiel starke Auseinandersetzungen zwischen Lesben und Schwulen, einen Verdrängungskampf. „Weil es um die Verteilung von Geldern und Einflussmöglichkeiten geht.“ Auf Christopher-Street-Veranstaltungen seien fast nur noch Männer zu sehen. Jetzt gibt es im Vorfeld deshalb Dyke Marches, bei denen Frauen sich sichtbar machen, sich solidarisch zeigen „und ihre Macht spüren“, wie er sagt.
Es gibt auch Diskriminierungen unter Lesben, weiß Sandra: „Auch in Ulm.“ Mit ein paar Lesben war sie auf einer Feier für lesbische Frauen. Eine ältere Lesbe kam auf sie zu und mokierte sich: Was machst Du hier, du bist keine richtige Lesbe. Sandra und ihre Freundinnen haben lange Haare. „Ich wurde nach meinen Beziehungen gefragt, als was ich mich definiere…“ Dass das Thema Feminismus und damit die Debatte von Frauenrollen gerade so im Fokus stehen, könnte der Sichtbarkeit von Lesben gut tun. Andererseits gäbe es Feministinnen, die radikal gegen Transsexuelle sind, weil sie sagen: Wie kann sich jemand als Frau fühlen, der keine ist?
Julia H. ist 22 Jahre alt und studiert Psychologie. „Ich bin als Junge auf die Welt gekommen. Und habe lange so gelebt.“ Sie spricht mit einer Stimme, die zwar nicht tief ist, aber auch nicht die einer Frau. Irgendetwas dazwischen. Ihre Haare sind blond und lang und sie hat unaufgeregte weibliche Klamotten an. „Es gibt ja viele - wenn man so die Lebensläufe anguckt -, die sagen, sie haben das schon als Kind gewusst.“ In der Pubertät hat auch Julia, die damals noch ein n am Ende des Namens hatte, gespürt: „Da ist irgendwas“. „Aber ich konnte es nicht richtig fassen.“ Schließlich schimmerte ihr, es liegt am Geschlecht. „Wenn ich mich umgeguckte und Jungen um mich herum beobachtete, dachte ich: So bin ich halt einfach nicht. Dann glaubte ich längere Zeit, ich bin einfach homosexuell. Das war’s aber auch nicht.“
Es dauerte, bis ihr Kopf akzeptierte: „Das ist jetzt einfach so. Ich bin transsexuell.“ Gleichzeitig war sie froh, dank des Internets, einen Begriff für das Verworrene Gefühl gefunden zu haben. Und zu wissen, „es gibt andere Menschen, die das auch haben“. Sie informierte sich über deren Lebenswege und „was man da machen kann“ und dachte sich lange: „Oh mein Gott! Ich pack das nicht, ich kann mir das nicht vorstellen. Etwa eineinhalb bis zwei Jahre bin ich dann durch die Gegend gelaufen und musste das für mich entscheiden. Mache ich das?“ Neuer Name, geschlechtsangleichende Operation… Eine OP, bei der sie zur Frau wird. Und vorbereitend viele Hormone nehmen muss - auch danach ein Leben lang. „Als ich das alles akzeptiert hatte, konnte es nicht schnell genug gehen.“
Es folgten aber viele Hürden - sie brauchte zwei psychiatrische Gutachten -, viel Zeit und Geld ging drauf. Allein 1000 Euro habe es gekostet, „das n wegzukriegen“. Und was die OP angeht: „Nicht gerade ein Spaziergang.“ Die Hoden und Samenstränge werden bei einem solchen Eingriff entfernt, der Hautschlauch des Penis’ in den Körper gestülpt, um die Vagina zu formen. Die Eichel bleibt erhalten. Auch die Orgasmusfähigkeit.
Schon vor der OP testete es der damalige junge Mann, als Frau zu leben. Als Julia ging er in Ulm auf WG-Suche und offen mit seiner Transsexualität um. „Wenn das die Menschen nicht akzeptieren können, sind es nicht die Menschen, mit denen ich zusammen leben will.“ Manchmal erwähnte Julia das schon in der Mailkommunikation vorab. „Meistens ziemlich scheiße, weil es dann zum Beispiel hieß, da sind sie jetzt nicht so aufgeschlossen, ich solle mir lieber woanders was suchen. Oder wir hatten einen Termin ausgemacht, ich habe ,das’ noch geschrieben, dann kam nichts mehr.“ Zwar gab es auch positive Reaktionen, aber, wenn die WG es erst im persönlichen Gespräch erfuhr, blieb das „Wir melden uns“ ebenso oft heiße Luft. „Das hat mich sehr getroffen, weil erstmal alles gut ist, die Leute lernen mich kennen und ab dem Moment, wo ich es sage, ist alles vorbei.“ Jetzt lebt sie in einer WG bei einer Familie und ist glücklich.
Sandra hat als Lesbe in Ulm überwiegend positive Erfahrung gemacht. Selten ist das überhaupt ein Thema. Im Studium allerdings war sie mit einer sehr christlichen Kommilitonin befreundet. Die Freundin brach den Kontakt ab. „Ich war sogar auf ihrer Hochzeit gewesen.“
Julia D. kam für ihren Master in Wirtschaftsmathematik nach Ulm. „Ich begann als Junge zu studieren.“ Dann ging sie in die USA für ein Jahr. Als Frau kam sie zurück. Für die anderen Studierenden sei das nicht sonderlich überraschend gewesen, obwohl sie es nie angesprochen hatte. Ihre Freunde blieben ihr nach der Geschlechtsangleichung treu, neue Freundschaften kamen dazu. Zu Menschen, die sich ähnlich fühlten, Ähnliches durchgemacht haben. Manche ihrer Professoren wollten das Ganze verstehen. Verstehen, wie Julia sich fühlte. Das fand sie gut und erleichternd. Denn, dass mit ihr „etwas nicht stimmt, dass mein Kopf etwas anderes sagt als die Hülle“, weiß sie, seit sie etwa fünf Jahre alt ist.
Chris Werneke stand mehrfach in einer Therapie vor der Frage einer Operation. Aber er entschied sich, einen dritten Weg zu leben. Einfach war für ihn die geschlechtliche Zuordnung nie. „In der Pubertät habe ich unglaublich darunter gelitten. Es war hart. Ich hatte oft Hormonstörungen.“ Aber: „Bei mir hat das ja von den Anlagen her ganz gut funktioniert, deshalb wollte ich lieber für die Rechte der Frauen kämpfen als meinen Körper verändern Mit 60 ist die hormonelle Unruhe auf natürliche Weise geregelt.“ Und er fügt hinzu: „Als ich mit meiner weiblichen Seite klar kam und das integriert hatte, hat sich mein Leben grundlegend verändert.“
Und so steht Chris Werneke heute so selbstverständlich zu seiner weiblichen Seite, dass er im Münstergottesdienst als sogenannte Drag Queen vor die Zuhörer tritt und eindringlich erzählt, wie sich die Schwulen-, Lesben-, Bi-, Queer- und Transsexuellen-Bewegung im letzten Jahrhundert entwickelt hat. Er ist eine Erscheinung. Mit dem Ballkleid und der Rokoko-Frauenperücke. Er lacht. Bewegt sich geschmeidig.
Nach zwei Stunden anregender Lieder, Texte und Fotos ist die Stimmung im Münster plötzlich gelöst. Männer halten Hände von Männern, Frauen von Frauen, Taschentücher werden kurz ausgepackt. Chris Werneke ist gerührt: „Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen. So einen Gottesdienst in dieser Kirche feiern zu dürfen. Mit allen Menschen. Es gibt kein schöneres Geschenk so kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag.“ Und dann wollen zwei Kinder, die mit ihrer lesbischen Tante bis aus Offenburg angereist sind, unbedingt ein Selfie mit ihm.
Exkurs:
Die Goldenen Zwanziger: Der Krieg ist aus, ein System des Gehorsams vorüber. Der §175 - der sogenannte Schwulenparagraf - zählt nicht mehr viel. In den großen Städten. In Berlin gibt es mehr Schwulen- und Lesben-Lokale als irgendwo anders in Europa. Auf den Transvestitenbällen tanzen Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung. Lesben können sich in deutschen Städten offen in Bars treffen, es gibt eine große Literatur- und Musikszene. In der Berliner Zeitung „Die Freundin“ aber warnen Lesben vor bisexuellen Frauen: „Hände weg von jenen Zweinaturen, die aus Lust an der Wollust beide Geschlechter geniessen! Sie treten unsere Liebe in den Schmutz!“. „Dieser Ausschuß der Frauen, dieser Abschaum ist es, den die wirklich homosexuelle Frau bekämpfen sollte“. Nur wenige Frauen leben ihre Bisexualität so offen wie Marlene Dietrich. Sie wechselte Partnerinnen und Partner und experimentierte mit Kleidung.
30er Jahre: Gewalt und Morde an Menschen anderer sexueller Orientierung nehmen zu. Die Nazis beenden die Ära der Freiheit. In Ulm werden Urteile nach dem §175 gesprochen, der sexuelle Handlungen Homosexueller verbietet. Etwa gegen den Bankbeamten Kurt Mehrhardt. Wegen „widernatürlicher Unzucht“ kommt er in den Knast. Sein Haus war durchsucht worden, sein Privatleben ausgespäht. Der Ulmer Karl Belthle muss ins KZ Sachsenhausen und wird dem „Schuhläufer-Kommando“ zugewiesen. Wie viele Homosexuelle. Sie müssen in täglichen Märschen von bis zu 48 Kilometern Schuhe von Firmen wie der „Salamander GmbH“ sowie für die Wehrmacht auf einer Prüfstrecke testen. Täglich sterben zwischen 15 und 20 Männer. Belthle am 13. Februar 1945, mit 22 Jahren. Zwei Monate später wird das Lager aufgelöst.
Auch in den Nachkriegsjahren werden Schwule verfolgt. Nicht nur in Deutschland. Marlene Dietrich trifft sich mit Hollywoods Lesben in „Nähkreisen“ - so der Tarnname. In den Sechzigern gibt es Razzien in New Yorker Schwulenlokalen. Es folgen Anklagen und Verhaftungen wegen „anstößigen Verhaltens“. Im Juni 1969 die Eskalation: Polizisten führen nachts wieder eine Razzia in einer bei Homosexuellen und Transgendern beliebten Bar, dem „Stonewall Inn“, durch. In der Christopher Street. Viele Schwule sind in New York, weil ein Schwulenidol beerdigt worden war. Die Besucher des Stonewall vertreiben die Polizisten gewaltsam. Zum ersten Mal widersetzt sich eine große Gruppe Homosexueller der Verhaftung. Viele solidarisieren sich in den folgenden Tagen mit Schwulen und Lesben. In Europa findet 1978 der erste Christopher-Street-Day (CSD) in Zürich statt, in Deutschland 1979 in Bremen.
1. August 2001: Homosexuelle dürfen eine rechtlich anerkannte Partnerschaft eingehen. Beantragt wird die auf der KFZ-Zulassungsstelle. 30. Juni 2017: Im Berliner Reichstag wird beschlossen, Schwulen und Lesben dürfen nun offiziell heiraten. 393 Abgeordnete waren dafür, 226 dagegen. Mittlerweile können sie in 18 von 20 Evangelischen Landeskirchen in Deutschland auch gesegnet werden.
Isabella Hafner