Digitalisierung - Fluch oder Segen?

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Digitalisierung - Fluch oder Segen?

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Es berieselt uns von allen Seiten: Der Digitalisierung gehört unsere Zukunft. Digital = modern = gut. Digitale Produkte machen unser Leben komfortabler, einfacher, effizienter: besser! - Im Ernst?

Der Digitalwecker klingelt. Wir stehen auf, drücken aufs Knöpfchen, schwups: Die Rollläden fahren elektrisch hoch und lassen den Tag herein. Zum Frühstück unterhält uns Alexa. Wir checken die digitale Raumluft-Anzeige - ein Fenster müssen wir nicht aufmachen, denn das digitale Lüftungssystem saugt die Frischluft ein und transportiert die alte hinaus. Wir checken die Nachrichten auf dem Handy, was sagt uns die Wetter-App? Mhhh. Vielleicht hätten wir auch einfach mal aus dem Fenster schauen können oder, ganz verwegen, sogar mal die Nase raushalten können? Schnell noch die Waschmaschine programmieren und heute Abend muss unbedingt der Staubsauger-Roboter mal wieder durch die Wohnung tuckern.

Wir fahren zur Arbeit, parken ein. Piep, piep, piep. Gut trainiertes, räumliches Vorstellungsvermögen war gestern. Unser ganzes Vertrauen gehört dem Einpark-Assistenten. Wir verlassen uns auch aufs Navi. Statt auf unseren Kopf. Wer kombiniert heute noch, dass wohl die Goethestraße gleich in der Nähe der Schiller- und Heinrich-Heine-Straße sein muss? Nein, nicht neben dem Rosen- oder Dahlienweg.

Wir sind am Arbeitsplatz angekommen, halten unser Kärtchen an den Türöffner. Piep! Die Tür springt auf. Erstmal ein Kaffee. Knopf drücken. Wie schön er surrt, der Kaffeevollautomat. Wie war das nur früher, als man Zeit brauchte, um sich seinen Kaffee aufzubrühen. Weg die Gedanken! Die Konferenz ruft. Natürlich digital, „Teams" sei Dank. 

Viele dieser klugen, weltverbessernden Anwendungen machen uns träge. Wir strengen unseren Kopf nicht mehr an. Jeder Handgriff wird uns zu viel. Der Knopfdruck oder Klick ist das äußerste unserer Gefühle, was wir bereit sind, an Energie aufzubringen - um uns danach per Fitness-App zuhause auszupowern. Warum kann man denn nicht schon alles per Sprachanweisung steuern? Ja wo leben wir denn? 

Digitaler Fortschritt?

Es gibt digitale Erfindungen, die können tatsächlich einen Fortschritt bringen. Nicht aber um des reinen Fortschritt Willens! Diese Zeit, diesen blinden Fortschrittswahn sollten wir in Zeiten hinter uns gelassen haben, in denen wir deutlich über unsere Verhältnisse leben. In der jeder von uns Deutschen laut UNICEF drei Erden bräuchte, um unseren Konsum zu sättigen.

Fortschritt kann in Zeiten, in denen unsere Lebensgrundlagen langsam zusammenschrumpfen nur als Fortschritt bezeichnet werden, wenn er uns medizinisch weiterbringt, das Zusammenleben fördert und: dazu beiträgt, den Klimawandel und Ressourcenverbrauch zu stoppen. Wenn die technische Anwendung uns dabei hilft: Energie zu sparen, weniger CO2 auszustoßen, weniger zu verschwenden, Materialien klug in einen Kreislauf zurückzuführen.

Ein Beispiel für positiven digitalen Fortschritt: Per App bekommt der Autofahrer angezeigt, wo gerade ein freier Parkplatz ist. Das spart Extrarunden, etwa auf Innenstadtringen wie dem um die Ulmer Altstadt. Damit werden weniger Abgase und CO2 ausgestoßen. Und nebenbei die Innenstadtbewohner geschont. Es könnte natürlich auch einen negativen Effekt zur Folge haben. Einen sogenannten Rebound-Effekt: Dann nämlich, wenn sich künftig Autofahrer denken: In Ulm, da finde ich immer so schnell einen Parkplatz, da fahre ich am liebsten mit dem eigenen Auto statt mit den Öffentlichen Verkehrsmitteln hin. Aber Fakt ist eben auch: Ein Drittel des Innenstadt-Verkehrs ist laut Schätzungen von Experten Parkplatzsuch-Verkehr.

Sinnvoll kann es auch sein, wenn Sensoren in der Erde von Beeten die Feuchtigkeit messen und Bescheid geben, sobald wieder gegossen werden muss. So wird nicht unnötig Wasser verschwendet, sondern nur dann gegossen, wenn die Pflanze auch wirklich Durst hat.

Überhaupt Sensoren: Die „Mädchen für alles“. Sie können auch via Echtzeitmessungen erfassen, wo es bedenkliche Emissionswerte gibt und was deshalb zu tun ist. Sie können ein Signal geben, wenn es im Gestein des Ulmer Münsters feinste Risse gibt. Sie überwachen ständig das Bauwerk und sorgen dafür, dass rechtzeitig repariert wird, bevor etwas herunter bröckelt. Auch die Rattenpopulation in den Abwasserkanälen können Sensoren messen, sodass die Stadt eingreifen kann, wenn eine Stelle besonders frequentiert ist. Es könnte in Ulm auch automatisierte Kühlbögen geben. An besonders heißen Tagen sprühen sie dann kühlenden Wassernebel in die Umgebungsluft. Doch wäre es da nicht sinnvoller mehr Flächen zu entsiegeln - statt Wasser zu verschwenden und das Schlechte weniger schlecht zu machen? Den Bahnhofsvorplatz - gerade frisch fertig - vom Asphalt zu befreien, beispielsweise. Oder die Gleisbette der Straßenbahnen. Die Schienen könnten in kühlendem Gras verlaufen. Wo obendrein Regen versickern und Insekten leben könnten.

Ob man unbedingt eine smarte Bibliothek braucht, in der man sein Buch nicht mehr bei einer netten Mitarbeiterin abgibt? In der man einfach alles in den Rückgabeautomaten steckt, ohne den Hinweis „gutes Buch, habe ich auch schon gelesen“? Darüber kann man sich streiten. 

Fahrten zum Amt kann man sich sparen, wenn man Formulare digital ausfüllen und versenden kann. Nachbarschaftsplattformen wie „nebenan.de" tragen dazu bei, dass die Kultur der gegenseitigen Hilfe und des Teilens hochlebt. Da hat sich heute mal jemand in den Kopf gesetzt, seine Äpfel dörren zu wollen. Wie gut, dass ein paar Häuser weiter laut Plattform eine Frau wohnt, die einen Dörrautomaten im Keller hat. Sie wiederum braucht vielleicht eine Bohrmaschine. All diese Dinge nutzt man eine Handvoll Male im Jahr. Sie amortisieren sich lange nicht für den Einzelnen. Und in jedem Gerät stecken Rohstoffe, seltene Erden, Energie. Wer teilt, trägt dazu bei, dass nicht unzählige Dinge fürs Herumstehen angeschafft werden. Oder nicht weggeworfen werden: Eine App informiert, wo gerade Lebensmittel oder sogar Mittagessen übrig sind. Dann kurz vorbei radeln und vor der Tonne retten.

Energieverbrauch

Doch so gut manche dieser Erfindungen auch für ein nachhaltiges Leben sein könnten - sie alle brauchen eines: Strom. Der muss irgendwo erzeugt werden. Wir sollen aber ja eigentlich Strom sparen und machen uns immer abhängiger von elektrischer Energie. Schaffen uns eine digitale Anwendung nach der anderen an. Der Strombedarf steigt rapide in Zukunft. Vom Sparen sind wir weit entfernt.

Der ganze Strom muss erstmal erzeugt werden. Noch sind wir nicht soweit, dass das komplett grün geht. Und selbst, wenn. Dann stecken in Wind- und Photovoltaikanlagen wertvolle Rohstoffe. Unser CO2- und Ressourcen-Fußabdruck wächst gleichzeitig. Bisher sind die ökologischen Folgen der Energienachfrage durch die Digitalisierung noch nicht umfangreich erfasst.

Und nach der Erzeugung muss der Strom auch transportiert werden. Dafür brauchen wir leistungsstarke Stromtrassen, die wieder keiner vor der Nase haben will. Leistungsstark muss auch das Internet sein, um unseren Alltag möglichst umfassend digital zu steuern. Damit die Künstliche Intelligenz künftig arbeiten kann. Um autonomes Fahren zu ermöglichen. 5G muss flächendeckend her. Doch noch ist unklar, ob es Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben wird. Dem entziehen wird man sich aber in Deutschland ohnehin nicht können. Und schon jetzt steht alle paar hundert Meter ein Handymast. Ob man will oder nicht. 

Wer heutzutage in einem unsanierten Altbau wohnt, bekommt noch eine zarte Ahnung davon, wie mal ein Leben gewesen sein musste, in dem in eine Steckdose nur eine Lampe eingesteckt wurde. Heute ziehen sich Mehrfachsteckdosen durch solche Altbau-Wohnungen. Da ist der Laptop angeschlossen wie an einer lebenswichtigen Nabelschnur, der Fernseher, der Thermomix, der Föhn, die Alexa, das Telefon, der Mixer, die elektrische Zahnbürste, das Handyladegerät. Dabei sollte man gar nicht so viele Dinge einstecken, warnt die Feuerwehr. Dafür sind die Leitungen nicht ausgelegt.

Nicht für die Gegenwart. Und wohl schon gar nicht für die Zukunft. Es kann nämlich einen Kurzschluss geben. Irgendwann auch für unsere unreflektierte Digitalisierungsleidenschaft?

Isabella Hafner